Opposition in Russland: Pussy-Riot-Mitglied im Hungerstreik
Nadjeschda Tolokonnikowa, die seit einem Jahr in einem Straflager einsitzt, berichtet in einem Brief von unmenschlichen Haftbedingungen.
MOSKAU taz | Seit fast einem Jahr sitzt Nadjeschda Tolokonnikowa schon in der Strafkolonie IK-14 im Dorf Parza in der Republik Mordwinien ein. Am Montag trat die Aktivistin der russischen Frauenpunkband Pussy Riot in einen unbefristeten Hungerstreik.
Sie sei, schreibt die 23-Jährige in einem auf der Website der Band veröffentlichten Brief, vom stellvertretenden Lagerleiter mit dem Tod bedroht worden, nachdem sie auf die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der sogenannten „Besserungskolonie“ hingewiesen hätte. „Dir wird es nirgends mehr schlecht gehen, weil es in jener anderen Welt nichts Schlechtes gibt“, soll der Vizechef der Kolonie, Jurij Kuprianow, gesagt haben. Tolokonnikowa sieht darin eine Morddrohung, zumal sich der Lagerleiter ihr bei der Aufnahme persönlich bereits als „Stalinist“ vorgestellt hatte.
Nadjeschda Tolokonnikowa war vor einem Jahr wegen Rowdytums auf Grundlage religiösen Hasses in einem spektakulären Prozess mit noch einer Mitangeklagten zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden.
Die Frauenpunkband hatte im Februar 2012 in der Christus Erlöser Kirche, dem Heiligtum der Orthodoxen Kirche in Moskau, ein Punkgebet abgehalten. Darin baten die Frauen die Mutter Gottes, ihnen bei der Vertreibung Wladimir Putins beizustehen, der sich gerade anschickte, als Präsident in den Kreml zurückzukehren. Orthodoxe Kirche und politische Führung nahmen diese Ordnungswidrigkeit zum Anlass, die Aktivistinnen in einem Schauprozess zu gottlosen Frevlern zu stempeln.
16 bis 17 Stunden arbeiten
Ihre ganze Arbeitsbrigade, so Tolokonnikowa weiter, müsse „16 bis 17 Stunden von 7.30 bis 0.30 Uhr arbeiten“. Schlafen dürften sie im besten Fall vier Stunden. Nur alle anderthalb Monate gebe es einen freien Tag. Fast alle Sonntage seien Arbeitstage, schreibt die ehemalige Philosophiestudentin, deren langer Brief eine aufrüttelnde Dokumentation der Unmenschlichkeit im russischen Strafvollzug darstellt. Die Lagerführung würde ausgesuchte Häftlinge nötigen, andere Häftlinge zum Unterschreiben zu zwingen, dass sie jeden Tag und auch diese Anzahl von Stunden freiwillig arbeiten wollten.
Zudem würde in der Schneiderei ständig die Norm erhöht. Waren es anfangs hundert Polizeiuniformen, die die Frauen am Tag nähen mussten, seien es inzwischen 150 Stück pro Schicht. Da die Normerhöhung vorher nicht angekündigt worden sei, sei dies bereits ein Verstoß gegen das Arbeitsrecht, so die Sängerin.
Toilettenbesuch verboten
Wer die Norm nicht erfüllt, muss unterdessen mit Sanktionen rechnen. So wird den Frauen verboten, zur Toilette zu gehen oder eigene Lebensmittel zu essen. Auch von informellen Disziplinierungsmaßnahmen berichtet Tolokonnikowa, die seit ihrer Beschwerde auch von Mitgefangenen physisch misshandelt worden sein will – angeblich mit Wissen der Lagerleitung.
Eine informelle Strafe ist beispielsweise, wenn eine Inhaftierte nicht in die Baracke zurückkehren darf und gezwungen ist, bei Wind und Wetter draußen sitzen zu bleiben. Laut Tolokonnikowa mussten einer Frau nach einer Strafe mehrere Finger einer Hand und ein Bein amputiert werden. „Wer nie in Mordowien gesessen hat, der hat nicht wirklich gesessen“, zitiert Toloknnikowa die Erfahrung von Mithäftlingen aus dem Moskauer Untersuchungsgefängnis, in dem sie vor der Verlegung in die östlich von Moskau gelegene Republik einsaß.
Mordowien sei verschrien, weil dort „das brutalste Regime“ herrsche, der Arbeitstag am längsten sei und himmelschreiendes Unrecht vorherrsche. Wer nach Mordowien verbannt werde, den begleiten die Mitgefangenen, wie wenn er zum Schafott geführt werde, meint Tolokonnikowa: „Hungerstreik ist das äußerste Mittel, ich sehe aber keine andere Möglichkeit mehr, um aus dieser Lage herauszukommen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen