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Oper über das SterbenAuf dem Weg ins Reich des Todes

Inhaltlich und künstlerisch überzeugend: „Koma“ in Braunschweig zu Musik von Georg Friedrich Haas und mit einem Text von Händl Klaus.

Entrückt: Immer wieder versuchen alle Kontakt aufzunehmen zur Komatösen Foto: Thomas M. Jauk/Stage Picture

Nicht nur Philosophieren, auch die Beschäftigung mit Kunst könnte helfen, sterben zu lernen. Also entweder die Gelassenheit zu entwickeln, sich mit der eigenen Endlichkeit anzufreunden – oder das Bedrohungspotenzial unserer Erfahrungs- und Erkenntnislücke beim Thema Tod abzumildern, indem wir seine Unausweichlichkeit weniger endgültig erscheinen lassen mit der Behauptung einer Sinn verheißenden Ordnung der Welt oder eines Ewigkeit verheißenden religiösen Bezugssystems.

Weil sich all das am besten an der Grenze zwischen Leben und Tod verhandeln lässt, siedelt das Staatstheater Braunschweig genau dort seine Auseinandersetzung mit dem Sterben an – „Koma“ ist die Oper betitelt: Georg Friedrich Haas vertonte dafür einen Text von Händl Klaus.

Beide spielen mit dem Schwebzustand zwischen letzten Lebenszuckungen und dem totalen Verschwinden in einem wie auch immer ausgestatteten Jenseits oder Nichts. Intendantin Dagmar Schlingmann inszeniert das Werk mit Mitteln des surrealen Theaters als immersives Erlebnis.

Die Be­su­che­r:in­nen sitzen auf der Bühne des Großen Hauses, platziert zwischen der Streicher- und Bläser-Gruppe des Staatsorchesters, die um Per­kus­sio­nis­t:in­nen verstärkt wurden. Hinter/unter der Zu­schaue­r:in­nen­tri­bü­ne singt die sterbend hinfortgleitende Michaela nicht mehr Worte zur verbalen Verständigung, vielmehr kündet sie mit wohlfeil intonierten Vokalisen von der abgeschotteten Unbewegtheit ihres wie narkotisierten Rest-Daseins. Sie ist im Wachkoma gefangen nach einem Badeunfall, der wahrscheinlich ein Selbstmordversuch war.

Sprünge, Verschiebungen und Lücken

Vereinnahmend durch ihren Sopranklangzauber und die Positionierung im Kontext des Publikums wird ihm suggeriert, es würde aus Michaelas Perspektive aufs Geschehen schauen, dem verzerrten Bewusstseinsstrom in ihrem träumenden Kopf. Zu betrachten ist das in einem Gazekubus, der vor dem Publikum hin und her sowie kreuz und quer bewegt wird. Passend zu der Erzählweise voller Sprünge, Verschiebungen und Lücken. Projizierte Bilder blubbernder Oberflächen verstärken die wundersame Atmosphäre ebenso wie die bleich-lila Kostüme des zehnköpfigen Ensembles.

Wie von Haas vorgeschrieben, sind die Szenenfragmente in drei Beleuchtungsstufen voneinander getrennt, obwohl nicht deutlich wird, warum diese Sätze im Grellhellen, jene im Schummrigen, wieder andere – bis zu acht Minuten lang – in totaler Finsternis geäußert werden. Was zumindest den Hörsinn feiner justiert und die Aufmerksamkeit intensiviert für die Handlungsschnipsel.

Klinisch steril räsonieren Ärzte und Pfleger in überartikulierter Sprechdiktion ihre Diagnosen, Behandlungsanleitungen und Verhaltenstipps für die hilflos verzweifelnden Angehörigen, die am Krankenbett Michaelas nicht wissen, was oder ob sie überhaupt noch etwas wahrnimmt.

Entrückt wirken die direkten Ansprachen durch den Ehemann, die Schwester, den Geliebten und die Mutter (beide von Daniel Gloger verkörpert, als Bariton bzw. Countertenor). Alle versuchen Kontakt aufzubauen, wollen die Unzugängliche trösten, ihr helfen, sie zu Reaktionen animieren und zurück in ihre Realität holen. Stumm beobachtet von der tieftraurigen Tochter.

Traumata und Trigger

Zudem schwirren immer wieder Gedächtnisfetzen von Michaelas Traumatisierungen vorüber. Depression, das Scheitern in Liebesdingen und im Lehrerinberuf sind angedeutet. Als es um Gewalt der Mutter geht, wird das Trommelarsenal heftig bearbeitet. Schockierend dann, als die Mutter ihrer jung schwanger gewordenen Michaela entgegenschleudert: „Dir wünsche ich ein totes Kind. Ich wünsche dir den Tod, mein Kind.“

Ein schier endloser Strickschal des Vaters wird bald zum Trigger, Missbrauchserfahrungen aufblitzen zu lassen. Auch Kindheitsbilder tauchen auf mit Einhorn und Dinosaurier als bedrohlich überdimensionierte Kuscheltiermonster.

Haas’ mikrotonal geprägte Klangflächen verweisen auf das verdämmernde Sein Michaelas – und nutzen dabei das wirkungsmächtige musikalische Vokabular des Nächtlichen und Unheimlichen. Es reicht von wisperndem Saitenklang über Herzschläge, die sich in hochfrequentem Flirren auflösen, bis hin zu eruptiven Ausbrüchen zum Ausloten emotionaler Extremzustände. Haas ist ein Meister des Schichtens, Verschachtelns, Verdichtens des kompositorischen Materials.

Verschwinden im Ungewissen

Wie die Musik den Zwischenzustand einer uneinholbar Entrückten mehr als 100 Minuten lang grundiert, befeuert, überhöht, konterkariert und abstrahiert, ist ebenso großartig wie es die Mu­si­ke­r:in­nen sind, die bruchlos von den dirigierten Passagen im Hellen zu den auswendig in die Schwärze hineininterpretierten Takte gleiten.

Am Ende sind nur noch verwehende „Michaela“-Rufe zu hören. Nach ihrem Leben und ihren Albträumen im Schnelldurchlauf, nach dem Aufbegehren, was das Krankenhausteam mit ihrem paralysierten Körper anstellt, und der verstörenden Familienaufstellung scheint die Protagonistin nun endgültig im Ungewissen zu verschwinden, dem Reich des Todes. Die Musik klingt dabei wie ein Sehnsuchtsschwelgen, hofft doch wahrscheinlich jede:r, dass der Abschied so leicht vonstatten gehe – wie eine sanfte Ausblende.

Georg Friedrich Haas: „Koma“

Nächste Aufführung: So, 28. 4., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig/Großes Haus; weitere Aufführungen: 15. 5., 24. 5., 1. 6.

Im Libretto heißt es, Michaelas Blick sei leer. Aber ihr Herz schlage, sie sei warm, atme selbstständig und zeige noch Reflexe. Körperfunktionen, die medizintechnisch noch lange aufrechterhalten werden können. Aber das Gehirn von Wach­koma­pa­ti­en­t:in­nen, darauf weisen Studien und auch der Neurobiologe Martin Korte von der TU Braunschweig im Programmheft hin, ist unumkehrbar tot, es fehlt wohl jegliche Voraussetzung für eine bewusste Wahrnehmung.

Michaela dürfte also nichts mehr sehen, fühlen, denken. Die Setzung des Stücks, wir erleben ihr Erleben der letzten Stunden, ist also wissenschaftlich falsch. Überzeugt aber künstlerisch, weil eine vibrierend verdichtete Theatersituation geschaffen wird, die einen suggestiv mit hineinnimmt in die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit. Ein musikalisch, optisch, inhaltlich lange nachhallender Abend. Wohl Schlingmanns beste Regiearbeit in ihren bisher sieben Jahren in Braunschweig.

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