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Schmerzhafter Wozzeck zum 100.Die brutale Logik der kapitalistischen Moderne

Zur Uraufführung 1925 gab es antisemitische Anfeindungen: Nach 100 Jahren ist Alban Bergs Oper „Wozzeck“ erneut an der Berliner Staatsoper zu erleben.

Verzweiflung der Moderne: Szene aus „Wozzeck“ Foto: Stephan Rabold

Man weiß nicht so recht, was mehr schmerzt an diesem Stück: die wiederholten Demütigungen, die der Körper dieses Gehetzten erleidet; die Gewalt, die sich entlädt, in dem fatalen Durchbruch seiner Halluzinationen, die nicht die Umstände anklagen, sondern sich hineinsteigern in die mörderische Eifersucht gegenüber seiner Frau Marie? Oder ist es die erschreckend lose Aneinanderreihung dieses unguten Geschehens, das nicht über den Status disparater Geschehensfetzen und vereinzelten Figuren hinauskommt und so das erschreckende Gefühl eines sinnlosen, von Gleichgültigkeit durchdrungenen Gewaltgeschehens hervorruft?

Georg Büchners „Woyzeck“ wurde von Heiner Müller einmal als „offene Wunde“ bezeichnet. Und auch wenn tief liegende Wunden bisweilen fehlgeleitete Heilungsmethoden hervorbringen, die zur Schablone verkommen können: Ein ergreifender, ein hochpräziser Abend in der Berliner Staatsoper Unter den Linden legt aktuell, und das mitten ins Herz, die Wunde Woyzeck frei. Das vor allem durch Musik, nämlich indem sie „Wozzeck“, die avantgardistische Oper von Alban Berg, in der Inszenierung von Andrea Breth und unter dem Dirigat von Christian Thielemann, anlässlich des Jubiläums ihrer Uraufführung 1925, vor 100 Jahren, wieder auf den Spielplan gesetzt hat.

„Wozzeck“ und nicht „Woyzeck“: Ja, eine leichte, aber wirkmächtige Verschiebung, die zunächst auf einem einfachen Lesefehler Bergs beruhte, der dann aber bewusst beibehalten wurde, wahrscheinlich um die Autonomie des neuen, musikalischen Zugangs herauszustellen. Vielleicht aber auch, weil dieses „Wozzeck“ noch ein klein wenig kälter, hündischer, ein klein wenig präziser klingt.

Soziale Notlagen und die Brutalität der Armut

So oder so, sowohl „Woyzeck“ als auch „Wozzeck“ haben sich als revolutionäre Stücke in die Theater- und Musikgeschichte eingeschrieben. Büchners Drama ist das erste deutsche, das vom niedrigen Leben erzählt, von einer subbürgerlichen Schicht, das in radikaler Weise soziale Notlagen und die Brutalität der Armut abbildet. 1835/36 verfasst, ist es Kommentar auf Massenarmut und abgründige Wirklichkeiten im Schatten der bröckelnden, aufklärerischen Ideale.

Menschen aus Fleisch und Blut zeigen wolle er – und nicht entfernte Träumereien wie die Idealdichter seiner Zeit mit „himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos“, schreibt Büchner einmal. Auch, wenn das bedeutet, die mörderischen Mechanismen von Fatalismus und Orientierungslosigkeit im Zeichen der brutalen Logiken der kapitalistischen Moderne ins Bild zu setzen, anstelle den bürgerlichen Idealen verklärter Gleichheit und Ich-Kontrolle Vorschub zu leisten.

Und so zuckt’s, hetzt’s und schwitzt’s in den Körpern, die in einer Übergangszone zwischen Menschlichem und Animalischem sind, und in der eigensinnigen Sprache, die als Volksidiom zwischen Pseudowissenschaftlichkeit und fatalistischer Volksreligiosität ihren Ausdruck findet. Das alles verfasst von einem Dichter, der als Doktor der Medizin neben dem Unbeherrschbaren des Menschen auch die Hirne und Nerven von Barben studierte.

Alban Berg wiederum nimmt dieses irrende Stück und übersetzt es in eine musikalische Sprache. Er beginnt während des Ersten Weltkriegs mit der Komposition, selbst mit einem neuen Krisenmoment der Moderne, der Umwandlung des technischen Fortschritts in kriegerische Apparatur und der Militarisierung und Traumatisierung der Körper, konfrontiert. Mehr als zehn Jahre arbeitet er an dem Stück, bis es 1925 an der Staatsoper zur Uraufführung kommt, nun in einer von der Hyperinflation gebeutelten Gesellschaft.

Angriffe auf die Zwölftontechnik

Von der konservativen bis zur ultranationalistischen und antisemitischen Presse wird der „Wozzeck“ angefeindet. Berg wird in rassistischer, diffamierender Weise als „Komponist jüdischer Abkunft“ dargestellt (obwohl er im Übrigen kein Jude war). Inhaltliche und politisch motivierte Vorbehalte verbinden sich mit ästhetischen Angriffen auf die Zwölftontechnik, sodass die Wirkung der Komposition bisweilen als schrill, bisweilen als langweilig dargestellt wird.

Wer selbst Vorbehalte gegen das Intellektualistische der Zwölftontechnik haben mag: Im Gegensatz zur Kopfmusik Arnold Schönbergs gelingt es Berg und dieser feinfühlig, zurückhaltend dirigierten Wiederaufnahme zu berühren, weil sie das Fragmentierte und Hochkonkrete der Vorlage mit einem abstrakten Klangraum gar nicht erst zu illustrieren versucht, sondern es mit einer Sanftheit vervollständigt, durchkreuzt, dem Ungesagten eine Menschlichkeit zurückgibt. So kann in der offenen Wunde tiefes Mitgefühl wachsen.

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