Offensive in der Ostukraine: Der brutale Weg nach Dnipro
Ukrainische und russische Streitkräfte liefern sich harte Kämpfe im Osten. Experten nehmen an, dass bald viele Menschen die Ukraine verlassen werden.
Die Ukraine wird die Städte Pokrowsk und Myrnohrad im Osten des Landes wohl nicht mehr lange halten können. Davon sind zumindest Experten auf beiden Seiten der Front überzeugt. Die Städte sind vergleichsweise klein, sind aber für die ukrainische Verteidigung enorm wichtig
Westlich von Pokrowsk und Myrnohrad befindet man sich hauptsächlich in einem Steppengebiet. Diese geografischen Begebenheiten erschweren die Abwehr russischer Streitkräfte. Pokrowsk liegt 180 Meter über dem Meeresspiegel, während die nächstgelegene größere Stadt Pawlohrad im Westen nur 70 Meter hoch liegt. Gerade dieser Höhenunterschied würde für die russische Artillerie und Drohnenpiloten günstige Bedingungen schaffen, um ukrainische Stellungen anzugreifen. Die Lage ist brenzlig – und die Kritik an der militärischen Führung der Ukraine wird lauter.
Militär-Videoblogger und Offiziere fordern, dass die Soldaten aus Myrnohrad abgezogen werden. Der Ort ist schon zur Hälfte eingekesselt und alle Wege in die Stadt führen entweder über Pokrowsk oder werden von Drohnen beschossen. Wie ein Militäranalyst der taz sagte, könnten der russischen Armee nach dem Fall von Pokrowsk und Myrnohrad zwei Hauptstoßrichtungen für ihre Winteroffensive zur Verfügung stehen.
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Die erste befindet sich im südlichen und südöstlichen Abschnitt der Front – in den Gebieten Saporischschja und Dnipropetrowsk. Dort sind die Verteidigungslinien der Ukraine eher auf die Abwehr von Angriffen aus dem Süden als aus dem Osten ausgerichtet, wo Russland bei Huljapole aktuell Druck ausübt. Saporischschja würde dann zu einer Frontstadt. Und mehrere Lenkbomben gleichzeitig könnten dann auch die Stadt Dnipro erreichen. Dnipro, wo vor dem Krieg fast eine Million Menschen lebten, hat ein beträchtliches wirtschaftliches Potenzial. Unter anderem wurden hier zu Sowjetzeiten die weltweit leistungsstärksten Interkontinentalraketen hergestellt.
Kommt der Vorstoß Richtung Dnipro?
„Satan“ nannte damals die Nato dieses Kriegsgerät. Aber: Es ist kaum möglich, dass die russische Armee in naher Zukunft Saporischschja und Dnipro einnehmen könnten. Allerdings ist es für die russische Luftwaffe und vor allem Drohnenpiloten durchaus möglich, dort Industrieanlagen zu zerstören und die Einwohner aus den Städten zu vertreiben.
Die russische Armee könnte auch in Richtung der wenigen noch unter ukrainischer Kontrolle stehenden Gebiete im Donbass vorstoßen: vor allem in den Ballungsraum Slowjansk-Kramatorsk. Durch die städtische Bebauung und etliche Befestigungsanlagen, die hier seit 2014 errichtet wurden, wird ein solcher Vorstoß zwar nicht leicht. Aber das Gebiet ist militärisch und wirtschaftlich attraktiver als der Südosten der Ukraine. Die „Befreiung“ des Donbass wurde bereits 2022 zu einem der drei wichtigsten russischen Kriegsziele erklärt. Dieser Plan ist zu 90 Prozent umgesetzt.
In den kommenden Wochen wird die Ukraine ihren Rückzug wohl fortsetzen. Nach Angaben der ukrainischen Armeeführung befanden sich am 11. November bereits rund 300 russische Soldaten in Pokrowsk. Mit Sorge blickt die ukrainische Bevölkerung auf die Kämpfe in dieser Stadt. Und dies macht sich auch in der Armee bemerkbar. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft meldete im Oktober rund 21.000 Fälle von unerlaubtem Verlassen der Einheit und von Soldaten, die desertierten.
Dies ist ein Rekordwert seit Kriegsbeginn vor 44 Monaten. Hinzu kommt, dass die Zahl der Soldaten sinken dürfte. Die Behörden haben Ende August dieses Jahres Männern im Alter von 18 bis 22 Jahren die Ausreise ins Ausland erlaubt. Laut Eurostat haben allein die EU-Staaten im September rund 80.000 Ukrainern den Status eines Geflüchteten gewährt. Dies ist der höchste Wert seit zwei Jahren.
Verstärkte Angriffe auf die Energieinfrastruktur
Fälle von Ukrainern im wehrpflichtigen Alter, denen es gelungen ist, etwa durch Bestechung in ihrem Heimatland den Status „aus gesundheitlichen Gründen untauglich für den Militärdienst“ zu erlangen und so ins Ausland auszureisen, sind keine Seltenheit. Außerdem gibt es zahlreiche Beschwerden und Unzufriedenheit gegenüber den sogenannten Territorialen Rekrutierungszentren (TSK). Die Vorwürfe: Willkür, Intransparenz und Unklarheit bei der Auswahl der Rekruten.
Viele Menschen sind davon überzeugt, dass die Zentren mehr mit Erpressung und der Verteilung von Bestechungsgeldern beschäftigt sind als mit den eigentlichen Einberufungen. Die Wut aus der Bevölkerung zeigte sich kürzlich in der Nähe von Odessa. Ende Oktober kippten dort etwa zehn Männer einen TSK-Kleinbus um und zerstören diesen.
Mit Beginn des Winters verstärkt die russische Armee auch ihre Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung. Die Regionaldirektorin des Internationalen Roten Kreuzes für Europa und Zentralasien, Ariana Bauer, erklärte, dass die kritische Infrastruktur der Ukraine bereits an der Grenze ihrer Kapazitäten arbeite. Wie der Monitor Luftkrieg Ukraine meldete, haben die russischen Angriffe auf Pumpwerke, Kraftwerke, Heizkraftwerke und Wasserleitungen im Oktober die größten Zerstörungen seit Jahresbeginn verursacht.
Ein Beispiel: In der Nacht vom 7. auf den 8. November wurde die Ukraine innerhalb weniger Stunden von so vielen ballistischen Raketen getroffen wie noch nie zuvor seit Beginn des Krieges 2022. Die Zahl der Menschen, die die Ukraine verlassen und vor allem in die EU fliehen, dürfte in den kommenden Monaten steigen.
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