Österreich nach der Ibiza-Affaire: Hart im Nehmen
Zwei Monate vor der Neuwahl in Österreich zieht die Schriftstellerin Doris Knecht eine ernüchternde Bilanz: Die Politik wird nicht abgestraft.
Dieses Österreich. Berge, Seen, das kitschig-schöne Walzer-Wien und politische Skandale mit so dummen Drehbüchern, dass sie in Hollywood eher wenig Chancen hätten. Zuerst ein Video, in dem ein FPÖ-Vizekanzler gemeinsam mit einem anderen FPÖ-Politiker auf Ibiza ein Land und seine größte Zeitung an eine falsche russische Oligarchin verscherbeln wollen: als Drehbuchplot reichlich überspitzt. Doch bevor wir uns davon erholt haben, dass es sich dabei um ungefälschte österreichische Politrealität handelt, bekommt die Geschichte einen Spin-off: Ein weiterer politischer Skandal fliegt deshalb auf, weil eine Rechnung über 76,45 Euro nicht beglichen wurde.
Aussteller der Rechnung: eine Akten- und Datenträgervernichtungsfirma namens Reisswolf (ja, wirklich). Die erstattete nach mehreren erfolglosen Mahnungen Anzeige wegen Betrug. Die Wiener Stadtzeitung Falter veröffentlichte am 23. Juli ein Video – und den Krimi um den Social-Media-Beauftragten des ehemaligen Bundeskanzlers Sebastian Kurz (ÖVP), der fünf Festplatten unter falschem Namen fünf Tage nach der Ibiza-Affäre im Mai vernichten ließ. Was sie enthielten, weiß man nicht. Ein Zusammenhang wird, wenngleich von ÖVP und Kurz entschieden dementiert, nicht ausgeschlossen. Die „Soko Ibizia“ nahm Ermittlungen auf.
Am Tag vor dem Tag des Ibiza-Videos war ich in Wien auf der Donnerstagsdemo; wie an fast jedem Donnerstag seit der türkis-blauen Regierung, gemeinsam mit ein paar Freundinnen und Freunden. Es war uns fast eine Art Stammtisch geworden. Wenn wir nicht verhindert waren, trafen wir uns donnerstags bei der Demo, in der Nähe des Schildes mit der Aufschrift „Kexit“, das immer von einem großen, langhaarigen Mann getragen wurde. Wir trafen uns bei Kälte, Regen und Schnee. Wir gingen mit, vorne, in der Nähe des Wagens, von dem DJ-Musik schepperte, die Stimmung war immer entspannt und fröhlich, nie aggressiv. Wir wollten vor allem Präsenz zeigen gegen diese Regierung und ihre Politik, um das Gefühl zu haben, irgendetwas zu tun, wenn auch nur gegen unsere eigene Hilflosigkeit. Hauptsache, man zeigte Präsenz, man zählte. Zahlen sind wichtig bei Demos.
Am Tag vor dem Tag, an dem die Regierung zerbröselte, war die Zahl klein, wir waren vielleicht zwei-, dreitausend. Ich traf kaum Bekannte, nur einen Journalistenkollegen, mit dem ich mich darüber unterhielt, wie wenige Medien- und Kulturmenschen mit demonstrierten. Wir sagten, das müssten zehnmal so viele Leute sein, wie wir es den ganzen kalten Winter über gesagt hatten. Und: „Wart ab, im Frühling werden wir viel mehr sein.“ Aber nun war es warm, die Regierung rückte das Land Woche für Woche weiter nach rechts, schränkte ungeniert die Rechte und Freiheiten von Frauen, Minderheiten, Asylwerbern, Armen und der Kultur ein – und trotzdem wurden wir immer weniger.
Das Ende der Kurz-Ära
Auf dem Wagen brüllte ein junger Mann in die Musik hinein Parolen, mit denen ich wenig anfangen konnte. Ich verließ den Demonstrationszug früher als sonst, hatte kein gutes Gefühl, nicht für den Widerstand, nicht für das Land. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Resignation je so groß war, und ich schreibe schon seit dreißig Jahren über Österreich. Am nächsten Tag kam dieses Video an die Öffentlichkeit. Und als bei der Donnerstagsdemo zwei Wochen später die Vengaboys „Going to Ibiza“ direkt vor dem Kanzleramt live spielten, bejubelten 20.000 Leute das Ende der Regierung. Das Ende einer Koalition der ÖVP mit der Freiheitlichen, deren Innenminister Herbert Kickl noch in seinen letzten Stunden, als die Abwahl schon fix war, eine Verordnung erließ, die den Stundenlohn von Asylwerber*innen für gemeinnützige Tätigkeiten auf menschenverachtende 1,50 Euro senkte.
In den Tagen zuvor war auch aus der Linken Kritik am Entschluss der SPÖ laut geworden, die Ära Kurz mit einem Misstrauensantrag zu beenden: Das sei verantwortungsloser Revanchismus und destabilisiere das Land. Eine merkwürdige Kritik in einer Situation, in der Sebastian Kurz das Land gegen alle Warnungen und aus Machtkalkül einer gefährlichen rechten Truppe ausgeliefert hatte. Denn die Gründe für den Misstrauensantrag liegen auf der Hand: Man konnte Kurz nicht als Kanzler in den Wahlkampf schicken, als der er nicht zuletzt das EU-Parkett und die Kür der neuen Kommission dazu nutzen würde, den Staatsmann zu tanzen, um so die Kratzer wegzupolieren, die das peinliche Scheitern der ÖVP-FPÖ-Koalition auf seinem Harnisch hinterlassen hatte. Wie angebracht das Misstrauen ist, hat die ÖVP auch angesichts der Schredder-Affäre (Operation Reisswolf!) gerade wieder bewiesen
Doris Knecht ist Schriftstellerin und Kolumnistin („Falter“, „Vorarlberger Nachrichten“, „Standard“). Ihre fünf Romane („Gruber geht“, „Besser“, „Wald“, „Alles über Beziehungen“ und zuletzt „weg“) sind bei Rowohlt Berlin erschienen. Sie lebt in Wien und im Waldviertel.
Das Aufatmen über das Ende dieser Regierung war sogar in Teilen der ÖVP spürbar, die den Kurz-Kurs, ähnlich wie die US-Republikaner, nur gegen innere Widerstände mitgetragen hatten. Viele Entscheidungen, die die Regierung während ihrer Amtszeit traf, wurden unmittelbar nach ihrem Ende von einem Parlament rückgängig gemacht, das nun freie Mehrheiten abseits von Regierungsvereinbarungen bilden konnte.
So wurde nun das noch von der früheren SPÖ-ÖVP-Koalition vorbereitete Rauchverbot in der Gastronomie beschlossen. Die Kurz-Strache-Regierung hatte es auf Wunsch der FPÖ „gekübelt“ – das Volksbegehren ignorierend, das 881.569 Österreicher*innen für einen besseren Nichtraucherschutz unterschrieben hatten. Eine Farce. Apropos Volksbegehren: Von der Kurz-Ära am tiefsten eingeprägt hat sich bei mir das Bild der Regierungsbank an dem Tag, an dem das Frauen-Volksbegehren, unterzeichnet von fast einer halben Million Österreicher*innen, im Parlament behandelt wurde. Sie blieb leer. Die Regierungsmitglieder, auch die Frauenministerin, hatten den Plenarsaal verlassen: welch Affront und Respektlosigkeit gegenüber demokratischen Prozessen.
Regieren nach dem „Trump-Prinzip“
Das Vertrauen gerade von Frauen in den österreichischen Rechtsstaat war da bereits gründlich irritiert. Denn nachdem die Grünen-Politikerin Sigi Maurer via Facebook brutal sexuell belästigt worden war und den mutmaßlichen Verfasser öffentlich gemacht hatte, wurde sie von diesem verklagt und tatsächlich wegen übler Nachrede selbst zur Zahlung von 4.000 Euro Schadenersatz verurteilt. Das Urteil wurde 2019 aufgehoben, der Prozess muss wiederholt werden. Von der ÖVP-FPÖ-Regierung kam für Frauen selten Unterstützung. Im Gegenteil: Sie kürzte Subventionen für Fraueneinrichtungen, etwa für Gewaltschutz und Prävention, massiv. Dafür schürte sie Debatten über die Einschränkung von Schwangerschaftsabruch.
Auch das ist symptomatisch für eine Regierung, die nicht wie frühere versuchte, Anderswählende ins Boot zu holen. Vielmehr ist eine fast kindische Lust spürbar, Kritiker*innen und Andersdenkende zu bestrafen. Mit rigider Message Control verfolgte auch sie das „Prinzip Trump“. Nach ihm kommt es letztlich nicht darauf an, ob etwas wahr ist, sondern darauf, wie viele eine Message glauben.
Genau so handhaben Kurz und seine Leute nun auch den Schredderskandal. Er wird heruntergespielt, ein Mitarbeiter habe „Mist gebaut“, heißt es. Außerdem handle es sich bei dieser Art der Datenvernichtung um ein ganz normales Prozedere bei der Amtsübergabe. Auch Kurz-Vorgänger Christian Kern (SPÖ) habe es praktiziert. Kern hat Kurz allerdings umgehend aufgefordert, diese Aussage zurückzunehmen, sonst werde er Klage erheben.
„Jetzt erst recht“
Der SPÖ hilft dies alles etwas: Die Führungsdebatte über Pamela Rendi-Wagner ist verstummt, die Werte der SPÖ steigen in den Umfragen vorsichtig. Und auch die Grünen haben sich erholt. Sie dürften neu formiert den Wiedereinzug ins Parlament problemlos schaffen. Doch die Kurz-ÖVP liegt in den Umfragen weiterhin vorne. Was von einem erstaunlichen Masochismus ihrer Wähler*innen zeugt, denen die letzte Regierung unter anderem 12-Stunden-Arbeitstage verordnete und den Zugang zur Mindestsicherung erschwerte. Aber Österreicher*innen sind hart im Nehmen. Das bewies auch die EU-Wahl: Neun Tage nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos bekam Hauptdarsteller Heinz-Christian Strache mehr als 37.000 Direktstimmen. „Jetzt erst recht“, so der Schlachtruf, der den Täter zum Opfer stilisierte. Und das funktionierte.
Ähnliches versucht derzeit auch das Team um Sebastian Kurz. Um von der Schredder-Affäre abzulenken, präsentiert man den ÖVP-Helden als Opfer sinistrer Machenschaften. Doch die Nebelgranaten scheinen in den eigenen Linien hochzugehen. Sein Apparat stottert. Der 32-Jährige wirkt verunsichert, geschwächt. Er scheint mit der Kanzlerschaft auch sein persönliches Mojo verloren zu haben.
Wird ihn dieses Österreich dennoch Ende September erneut wählen? Die Donnerstagsdemos gehen sicherheitshalber schon bald wieder los.
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