„O Solitude“ von Henry Purcell: Verliebt in die Einsamkeit
Manche Lieder gehen nicht ins Ohr, sondern ins Herz, auf die Haut oder in den hinteren Gaumen. „O Solitude“ von Henry Purcell feiert die Einsamkeit.
„O Solitude“ ist eine Liebeserklärung an die Einsamkeit. Henry Purcell hat vor über 300 Jahren die Musik geschrieben. Purcell ist der Bach der Engländer. Der Komponist hat ein großes Werk hinterlassen, obwohl er mit 36 Jahren schon starb. Und, ihm wird nachgesagt, er habe die englische Sprache in die Musik geholt. So hat er mit der Musik dazu beigetragen, dass sich die Länder auf der Insel vereinigen, anstelle sich wie zuvor wegen Religionen in Bürgerkriegen zu verstricken.
Aber das schweift ab, zumal der Zusammenhalt des Vereinigten Königreich gerade alles andere als gesichert ist. An dieser Stelle geht es einzig um „O Solitude“. Das Lied beseelt, je öfter gehört, denn es setzt sich nicht im Ohr fest, sondern im Herz, auch auf der Haut und am hinteren Gaumen. Dort schwingt der erste süße Ton, es ist ein kreisrundes O.
Erst das O, dann ein Sprung. Vom O, das hoch gesungen wird, geht es eine Septime hinunter, zur ersten Silbe im ersten Wort, in der das O sich wiederholt: „O Solitude“ – O Einsamkeit. Auf Deutsch funktioniert das nicht, sagt David Erler, Sänger ist er, Countertenor. Die Vokale harmonieren dann nicht, und würden sie es, müsste es „Ei Einsamkeit“ heißen und schon rutschte alles in die falsche Spur.
Eine Septime kann wie ein Stolpern sein
Erler sitzt im Café Gloria im Schatten der Thomaskirche in Leipzig und ist bereit, alles, was aus der Komposition herauszuholen ist, in Worte zu fassen. Ein einfaches Unterfangen ist das nicht. Denn was sollen Worte, wo Musik ist?
Das mit der Septime sei auffallend, meint Erler. Einer Oktave, also einem Intervall mit acht Tonstufen, können auch Ungeübte leicht folgen. Eine Septime dagegen könne für sie wie ein Stolpern sein. Erler hat das Lied im Repertoire, führt es bald auch im Friedenauer Kammermusiksaal in Berlin auf.
Die Septime ist als Intervall so schwierig wie der Versuch, einen siebenzackigen Stern zu zeichnen. Ein achteckiger ist leicht, man faltet ein quadratisches Blatt erst auf die Hälfte, dann die Hälfte auf ein Viertel und danach die Viertel noch in der Diagonalen. Klappt man es wieder auf, hat man das symmetrische Gerüst für einen achtzackigen Stern. Aber ein siebenzackiger Stern – da hakt es, da fehlt die Symmetrie.
In Purcells Lied wird siebenzackig die Einsamkeit besungen: Einsamkeit als großes Glück. Einsamkeit als herbeigesehntes Einssein mit sich in der Natur. Einsamkeit als Verführung, als Unmöglichkeit, als große Schule und schale Täuschung. Und: Einsamkeit als Kontinuum.
Süße Wahl oder süße Freude
Das Kontinuum ist der Bass. Vier Takte, die sich immer wiederholen. „Ground“ wird dieses dem Stück zugrunde liegende musikalische Muster genannt, sagt Erler. Und auf seinem Notenblatt, das er im Café Gloria bei der Thomaskirche, wo Johann Sebastian Bach wirkte und begraben ist, zeigt, steht es auch im Titel. „O Solitude – a Ground.“ Auf diesem Grund feiern Melodie und Gesang ein Fest. Wie viele Feste ist es bittersüß.
Dieser immer gleiche meditative Bass, er könne tröstend wirken, meint Erler. Aber auch ausweglos, „immer dieselbe Leier.“ Das Stück bekäme dadurch etwas Insistierendes, „nur, das bemerkt man nicht, weil die Singstimme so viele verschiedene Facetten hat.“ Da also, genau da sind sie, die zwei Seiten der Einsamkeit: Dass sie begehrt und gefürchtet wird in einem.
„O solitude, my sweetest choice“ heißt die erste Zeile. O Einsamkeit, meine süßeste Wahl. Gesungen ist es leicht, anstatt „choice“ das Wort „joy“ zu hören – O Einsamkeit, meine süßeste Freude. Und an diesen nicht richtig artikulierten Laut zeigt sich ebenfalls diese Ambivalenz, die an der Vorstellung von Einsamkeit klebt. Sich für sie entscheiden oder sich an ihr freuen, Kopf oder Herz. Wer jedoch denkt, das geht immer so weiter, stolpert eingelullt, über ein hartes Wort am Ende: „Hate“. Hass. „I hate it.“ Für David Erler ist es das auffallendste Kompositionsmerkmal, dass bei „I hate it“ der gleiche siebenstufige Septimensprung wie bei „O solitude“ gesungen werden muss. Bei Hörern komme die Septime nicht als Dissonanz an, sie werde vom Bass aufgefangen, aber es sei dissonant. „Weil die Septime so stark ist, will Purcell uns etwas sagen.“ Nur was?
Das Lied des 1659 geborenen und 1695 verstorbenen Komponisten Henry Purcell basiert auf einer Nachdichtung der Lyrikerin Katherine Philips aus dem Französischen. Sie war zu ihren Lebzeiten sehr bekannt, auch als Salondame. Für ihr Werk interessiert sich die Literaturwissenschaft heute allerdings weniger als für die Frage, ob Philipps, die von 1632 bis 1664 lebte, eine Sappho war und Frauen liebte.
Moderne Barockmusik
Die Vertonung, die Purcell zum Gedicht komponierte, steht für sich, ist nicht eingebettet in ein größeres musikalisches Werk. Und wenn doch, ist es nicht bekannt. Wie so vieles über ihn nicht bekannt ist. Man weiß nicht einmal, wie Purcells Name richtig ausgesprochen wird, „Pörsell“ oder „Pörsl“. David Erler nennt ihn „Pörsl“. In einem anderen Lied nämlich tauche sein Name auf und könne nur so gesungen werden, sagt Erler.
Empfohlener externer Inhalt
O Solitude
In der Portrait Gallery in London gibt es ein Bild, das Henry Purcell zeigt. Seine Gesichtszüge sind markant, die Augen schimmern glasig, seine Nase ist groß und schmal, sein Mund mit einem leicht schelmischen Zug, trotzdem liegt Weichheit im Ausdruck und zögerliche Empfindsamkeit.
Sein Leben lang war Purcell Musiker der Chapel Royal in London, der Kirche, wo Königinnen und Könige beteten. Folglich hat Purcell Kirchenmusik komponiert, das war sein Job, aber auch Opern, Trinklieder, Stücke für Zeremonien, Krönungen oder Trauerfeierlichkeiten wie die für Königin Mary, die 32-jährig im Jahr 1694 an Pocken starb. Die Musik für sie wurde auch auf seiner Beerdigung ein paar Monate später gespielt.
Purcells Musik hat bis heute Resonanz, sagt David Erler. Weil sie einen stets überrasche. Und Spielraum lasse für eigene Interpretation. Das mache Barockmusik auch so modern. Kommt hinzu, dass es zur Zeit, als die Musik komponiert wurde, keine Tonträger gab. Jede Aufführung war einzigartig und kann es auch heute sein. „Es wurde viel mehr improvisiert, als wir uns das vorstellen mögen.“
Erler selbst versteht sich dennoch eher als Diener der Komposition. „Ich will die Noten ernst nehmen und ausführen“, sagt er, „aber je länger man sich damit beschäftigt, desto mehr kann man sich davon lösen.“
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Erler ist 1981 in Auerbach im Vogtland in eine Kirchenmusikerfamilie geboren. Dieser Umstand bedeutete etwas in der DDR, nämlich Opposition. David Erlers Eltern waren nicht in der Partei, er nicht bei den Jungpionieren. Die Kirche war der identitätsstiftende Raum. „Bei Kirchen konnte man mehr man selbst sein.“ Das prägt ihn, bis heute. Deshalb fühlt Erler sich der Kirchenmusik nahe, der alten ganz besonders. Er forscht auch zu Kirchenmusikern: Heinrich Schütz, Johann Kuhnau – „deren Pech, dass Bach alles überstrahlt“, deshalb würden nur wenige ihr Werk kennen.
Ein paar Tage später steht David Erler im Kammermusiksaal Friedenau, der mit seinen runden Fenstern und den Kronleuchtern, die, wären es Kerzen, eine wahrhaft barocke Stimmung zauberten, und probt „O Solitude“. Im Raum sammelt sich diese fein verwobene Musik, in der jeder Ton eines Instruments gehalten wird von den anderen, und das ohne breiig zusammen zu schmelzen zu einem schweren Musikklumpen. „Purcell ist der Meister der Mittelstimmen“, sagt Erler. Das, was sonst nur die Melodie stütze, sei bei Purcell selbst charaktervoll.
Die Musikerinnen an Cembalo, Cello und Geige diskutieren, wie viel Raum sie mit dem Grundmotiv einnehmen können, bevor David Erler mit „O Solitude“ einsetzt, und sie diskutieren die Schnelligkeit, denn das Lied soll langsam sein in seinem Lauf, auch wenn der im Grunde schnell ist. Am Ende liegt alle Spannung in Erlers Gesang, er legt seine ganze Ausdruckskraft in dieses O, um das Herz zum Vibrieren zu bringen und die Schönheit der Einsamkeit groß zu machen, „o solitude, my sweetest choice“.
Das Lied begänne so trist und zerbrechlich, sagt Erler, „und ist es am Ende doch nicht.“
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