: „Nur für Stammheim spreche ich“
Morgen vor 25 Jahren wurden die Urteile über die erste RAF-Generation verkündet. Bis heute hält sich die Legende von der „Isolationshaft“ der Gefangenen im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim – zu Unrecht, wie der ehemalige Justizvollzugsbeamte Horst Bubeck berichtet, der damals für den Terroristentrakt mit zuständig war
von KURT OESTERLE
Wie leben eigentlich die Häftlinge in Stammheim? Fragt in Heinrich Breloers Film „Todesspiel“ der Darsteller von Helmut Schmidt den Darsteller von Horst Herold. Der Chef des Bundeskriminalamts antwortet dem Bundeskanzler, er wisse es nicht.
Der Dialog ist verbürgt. Und es erstaunt noch heute, wie wenig selbst in den obersten Politiketagen der Bundesrepublik über die Lebensumstände der gefangenen RAF-Terroristen im siebten Stock der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim bekannt war.
Der Alltag von Baader & Co. in Untersuchungshaft hätte das Thema des dritten Teils von Breloers Dokudrama zum zwanzigsten Jahrestag des Deutschen Herbstes von 1977 sein sollen. Im Kölner Filmstudio war der Schauplatz für fünfhunderttausend Mark bereits originalgetreu nachgebaut. Der Regisseur hatte sich für diesen Teil seines TV-Projekts der Kenntnisse eines Mannes bedienen können, der mit dem berüchtigten Gefängnis vertraut war wie niemand sonst: Horst Bubeck, heute Pensionär, doch vierzehn Jahre lang, von 1972 bis 1986, stellvertretender Vollzugsdienstleiter in Stammheim und zuständig für die Abteilung, in der zwischen 1974 und 1977 die führenden Aktivisten der ersten RAF-Generation einsaßen.
Bubeck lebt zusammen mit seiner Frau nach wie vor im Stuttgarter Norden – in einer Eigentumswohnung, die im siebten Stock liegt: eine Ironie des Zufalls, die seine Kollegen während der Einweihungsparty immer wieder entzückte. Teil drei des „Todesspiels“ wurde nie gedreht. Horst Bubeck, der über drei Jahre lang täglich oft mehrmals mit den Gefangenen im siebten Stock zu tun gehabt hatte, blieb auf seinem Wissen sitzen. Eine wertvolles Zeitzeugnis – verschenkt.
Freilich, die Passagen über das wahre Innenleben des so genannten Hochsicherheitstrakts wären neben den actionreichen Teilen über die Entführung und Ermordung eines Arbeitgeberpräsidenten sowie die Erstürmung eines gekidnappten Passagierflugzeugs in Afrika eher zu einem Kammerspiel geworden. Unüberhörbar hätte Bubeck die Mär von der Isolationshaft, gar der Isolationsfolter zum Verpuffen bringen, das System von Vergünstigungen belegen können, die den RAF-Gefangenen von der Justiz gewährt wurden und, so Bubeck, „in der ganzen deutschen Knastgeschichte einmalig sind“.
Auf der Suche nach Vergleichen hat er diese Geschichte genau durchforscht. Kein Häftling aus den folgenden Generationen der RAF traf je wieder auf so wenig unangenehme Haftbedingungen wie seine Vorgänger im Stammheimer Gefängnis vor dem 5. September 1977, dem Beginn der „Kontaktsperre“ nach der Entführung Hanns-Martin Schleyers. Von den zuständigen Gerichten wurde für jeden der Nachfolger strenge Einzelhaft angeordnet. „Wenn diese Häftlinge sagen: ‚Ich werde isoliert‘, dann kann ich das nachfühlen, aber Baader, Ensslin, Meinhof, Raspe – lächerlich!“
Die Gründergeneration der RAF hatte im Untergrund nicht annähernd so erfolgreich agiert, wie sie es später vom Gefängnis aus tat – vor allem dank der lockeren Haftbedingungen. Dennoch verbreitete sie die Lüge von der Isolation. Mit ihr gelang es, in Dutzenden von „Antifolterkomitees“ bundesweit ein Milieu für gutgläubige, mitfühlende und hilfsbereite Sympathisanten zu schaffen, aus dem sich bald militanter Nachwuchs rekrutieren sollte.
Horst Bubeck, heute 68 Jahre alt, will sein Wissen endlich anbringen. Seine Stammheimer Erfahrungen sollen Stück für Stück in das bundesdeutsche Kolossalpuzzle „Baader/Meinhof und die Folgen“ eingesetzt werden. Breloers Fernsehfilm hätte ihm beinahe die Chance geboten, es vor großem Publikum zu tun – mit schriftlicher Genehmigung seines einstigen Dienstherrn übrigens, der ihm nur untersagte, über „sicherheitsrelevante Dinge“ zu reden, also über die Schließanlage und das Alarmsystem.
So blieb Bubeck nur die Möglichkeit, an der Evangelischen Akademie in Bad Boll, in einem Freiburger Uniseminar – über „Folter im Mittelalter“, man hielt ihn da offenbar für einen Spezialisten – oder in kurzen Interviews sein Wissen wenigstens teilweise auszubreiten. Als „Berufszeitzeuge“, wie er jüngst in der taz geschmäht wurde, weil er sich in einem Fernsehfilm zu Stammheim befragen ließ, versteht sich Bubeck nicht.
In Gesprächen mit jungen Leuten wundert es ihn oft, wie wenig sie über die Ära des Terrors in den Siebzigerjahren wissen. Jahre, die manchmal in quälender Zeitlupe zu verstreichen schienen und Narben hinterlassen haben. Umso merkwürdiger, dass schon heute, kaum 25 Jahre danach, bei den Nachgeborenen das Bild der damaligen Verhältnisse derart blass geworden ist – trotz aller Bücher und Filme, die seither dazu verfasst und gedreht worden sind, aber offenbar immer nur einen kleinen Kreis von Neugierigen erreicht haben.
Wer Bubeck erzählen lassen will, sollte etwa fünfzehn Stunden Zeit mitbringen. So lange hat, auf drei Tage verteilt, unser Gespräch bei ihm daheim gedauert. Dabei sagt der ehemalige Justizvollzugsbeamte kaum ein Wort zu viel. Das Blumige liegt ihm nicht. Er spricht langsam und genau. Bei ihm lernt man, dass Genauigkeit eine Art der Gerechtigkeit sein kann: Menschen, Dingen, Zeiten gegenüber. So gut wie nie redet er in psychologisierenden Unterstellungen über die Gefangenen der RAF, sondern berichtet nur, was sie sagten, was sie taten, was sie ließen.
Auch kommt kein gehässiges Wort gegen sie aus seinem Mund, obwohl er und seine Kollegen ihnen lange genug als Blitzableiter dienen mussten. Zu seinem Gesprächspartner sagt Bubeck am Ende: „Danke, dass Sie mich nie gefragt haben, wie oft Frau Meinhof mich ein Arschloch genannt hat.“
Er sitzt am Tisch mit vor der Brust verschränkten Armen. Hin und wieder fährt er sich streng, fast grob durchs eigene Haar, ein Zeichen seiner Anspannung. Er wirkt beherrscht, aber nicht verkrampft. Wenn er über das hinausgreift, was er belegen kann, dann kündigt er es lieber einmal zu viel als zu wenig an. Keineswegs ist er der unbedarfte „Amtsinspektor Bubeck“, den Stefan Aust in seinem Buch „Der Baader-Meinhof-Komplex“ zeichnet und der manche Fragen oder Einschätzungen, mit denen er nach den Stammheimer Selbstmorden vor dem Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags konfrontiert wird, „kaum zu begreifen“ scheint.
Man könnte auch so sagen: Aust muss Bubeck für ein staatstreudoofes Rädchen im großen Justizgetriebe gehalten haben – nicht zeugnisfähig. Dabei hat er nie mit ihm gesprochen. Stattdessen zitiert er nur immer wieder, wenn auch ohne Quellenangabe, die Aussagen, die Bubeck vor dem Untersuchungsausschuss als Zeuge zur Todesnacht, zu den Haftbedingungen, zu den Beziehungen zwischen Häftlingen und Vollzugspersonal gemacht hat.
Auch ich kannte den Namen Horst Bubeck zunächst nur aus dem Abschlussbericht dieses Ausschusses. Ihn näher zu befragen war nicht schwierig. Mühelos war er im Stuttgarter Telefonbuch zu finden. Als ich Bubeck mitteile, dass seine Geschichte für die taz aufgeschrieben wird, seufzt er: „Vielleicht ist das, was ich zu erzählen habe, dort ja besonders gut aufgehoben.“ Er meint: In jenem Blatt, dessen Leser früher einem wie ihm nicht geglaubt hätten – und gerne Mutmaßungen über die Ermordung der Stammheimer RAF-Gefangenen nachhingen.
Wer ihm begegnet, merkt schnell, dass der ehemalige Vollzugsbeamte es nicht mehr nötig hat, sich freizureden. Das Stadium des befreienden Sprechens liegt hinter ihm. Seine Erfahrung ist geordnet, seine Geschichte wirkt klar gebaut. Gleichgültig ob er auf eine Frage spontan und emotional oder zögerlich und nüchtern reagiert: Man spürt in allem die vielen Jahre des Erinnerns, Nachdenkens, Wiederholens. Bubeck hat die Zeit, nicht erst seit seiner Pensionierung im Jahr 1991, genutzt. Was für ihn vielleicht lebenswichtig war: aufarbeiten statt verdrängen oder auch nur auf sich beruhen lassen.
Doch legt man sich seine Erinnerungen nicht immer auch zurecht? „In diesem Fall nicht“, sagt er, „denn alles, was ich in Stammheim erlebt habe, war zu groß, zu schwer und hat sich viel zu tief eingegraben. Außerdem hatte ich ja nichts zu verbergen.“
Bubeck kann seine Gedächtnisarbeit durch Dokumente stützen. Diese bewahrt er in einer mächtigen Holztruhe in seinem Wohnzimmer auf. Schon 1974 hat er begonnen, Tagebuch zu führen. „Es mag komisch klingen“, sagt Bubeck, „aber ich habe sofort verstanden, dass das, was hier geschah, nicht normal war, eine Ausnahme, nie dagewesen – also Geschichte.“ Auch machte er von allem, was von Amts wegen durch seine Hände ging, Kopien und legte eine Sammlung davon an: Botschaften, die er zwischen den Gefangenen hin- und hertrug; ebenso Briefe von ihrer Hand, die an ihn selbst gerichtet waren; außerdem Anordnungen der Anstaltsleitung und des für die Haftbedingungen zuständigen Gerichts, die er und seine im dreifachen Schichtwechsel Dienst habenden fünfzehn Kollegen im Terroristentrakt umsetzen mussten, alles Sammelstücke, die ihm auch vor dem Untersuchungsausschuss gute Dienste leisteten.
„Diese Art der doppelten Buchführung war durchaus rechtens, wenn auch vielleicht ungewöhnlich“, sagt Bubeck. Dazu kamen noch Fotos, die er von den vier Hauptgefangenen aufgenommen hatte. Ebenso die vom Vollzugsdienst bei Zellenkontrollen konfiszierten illegalen Basteleien des RAF-Häftlings Jan-Carl Raspe, eines hochbegabten Kleinbaumeisters, der aus einer Plätzchendose einen Pizzaofen en miniature herstellen konnte sowie aus Nescafé-Gläsern und Zwangsernährungsschläuchen eine Schnapsdestille, die aber unvollendet blieb.
Raspes Arbeiten, denen die handwerkliche Anerkennung schwer zu versagen ist, nahm Bubeck oft in die Strafvollzugsschule, in der er unterrichtete, mit, um seinen Schülern daran die Einbildungskraft und den Erfindungsreichtum von Menschen im Knast zu demonstrieren. Sämtliche dieser Werke offenbaren einen skurrilen Willen zur Privatheit und zum kleinen Widerstand in der Knastordnung. Als er in Pension ging, überließ Bubeck sie dem Strafvollzugsmuseum in Ludwigsburg. Alles Übrige aber bildete den Grundstock seines „Privatarchivs“, das in über zwei Jahrzehnten um zahlreiche Bücher und Zeitungsartikel erweitert worden ist und in loser Ordnung in seiner Seemannskiste aufbewahrt wird.
Später möchte er seine Beweisstücke einem Historiker übergeben, der durch sie die Stammheimer Vergangenheit auch für eine fernere Zukunft noch einmal zum Sprechen bringen kann. Doch vorläufig gehört der Schatz noch ihm. Spätestens alle halbe Stunde erhebt er sich im Gespräch, tritt vor die Holztruhe, öffnet sie und sucht etwas hervor. Er betont dann stets: „Ich sage nur, was ich auch belegen kann.“
So viel steht auch unabhängig von Bubecks Zeugenschaft fest: Die Baader-Meinhof-Gruppe, die sich später „Rote Armee Fraktion“ nannte, entstand 1970 und war die erste bewaffnete Gruppe, die sich in der Bundesrepublik nach Art der Stadtguerilla in der Dritten Welt organisierte. Je länger, desto mehr sahen sich ihre Mitglieder als Teil einer Weltbürgerkriegsarmee, die an verschiedenen Brennpunkten den, wie sie es nannten, westlichen Imperialismus angriff. Der große Hauptfeind waren die USA, die gegen das kleine asiatische Land Vietnam Krieg führten, der kleine war Israel (im RAF-Jargon „die neuen Nazis“), das den Palästinensern einen eigenen Staat, ja Lebensraum vorenthielt.
Der amerikanische und der israelische „Völkermord“ dienten zur Rechtfertigung der eigenen Aktionen. Das Kampfgebiet der RAF war vorwiegend die Bundesrepublik. In Heidelberg verübte sie gegen das Hauptquartier der US-Armee am 24. Mai 1972 ihren schwersten Anschlag, bei dem drei amerikanische Soldaten durch Zeitbomben getötet wurden. Vier Jahre später bekannte sich Gudrun Ensslin vor Gericht ausdrücklich auch zu dieser Tat. Im Bekennerschreiben hatte damals gestanden: „Die Menschen in der Bundesrepublik unterstützen die Sicherungskräfte bei der Fahndung nach den Bombenattentätern nicht, weil sie Auschwitz, Dresden und Hamburg nicht vergessen haben.“
Seltsame Fügung: Neben den Großzielen alliierter Luftgeschwader in den letzten beiden Jahren des Kriegs gegen Nazideutschland steht Auschwitz, der Hauptort der deutschen Judenvernichtung, so als wären die Amerikaner auch dafür verantwortlich. Normalerweise sahen die RAF-Kämpfer es umgekehrt: nämlich dass die „Menschen in der Bundesrepublik“ Auschwitz nur allzu gern vergessen oder verleugnet hätten und deshalb nach wie vor „die alten Nazis“ in diesem zur Läuterung unfähigen Land herrschen könnten. Der demokratische Rechtsstaat schien ihnen ein durch das Grundgesetz mühsam verdecktes faschistisches Gebilde zu sein, das man nur provozieren müsse, damit er sein wahres Gesicht zeige. Den Faschismus „hervorkitzeln“ war darum lange eine ihrer liebsten Vorstellungen.
Nachdem am 2. Juni 1967 in Westberlin ein Polizist bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hatte, fiel späteren RAF-Chronisten erstmals eine hagere junge Frau namens Gudrun Ensslin auf, die im SDS-Büro schluchzend ausrief: „Die werden uns alle umbringen – ihr wisst, was für Schweine wir hier gegen uns haben. Das ist die Generation von Auschwitz, die wir hier gegen uns haben. Man kann mit den Leuten, die Auschwitz gemacht haben, nicht argumentieren. Die haben Waffen und wir nicht. Wir müssen uns bewaffnen!“
Das absolute, jedes Gegenargument ausschließende Wort „Auschwitz“ sollte, wie zu sehen sein wird, noch öfter zum Einsatz kommen. Auch der kleine Staatsbeamte Bubeck machte sich zur RAF seine Gedanken. So wie die Linken im Land störte auch ihn die Vietnampolitik der Amerikaner. So wie ihnen missfiel ihm das oftmals kaum behinderte Fortkommen alter Nazis innerhalb des demokratischen Rechtsstaats, den er im Unterschied zu den Linksradikalen freilich nicht für unveränderbar hielt. Mit der Bonner Reformregierung aus SPD und FDP in den Siebzigerjahren war Bubeck „im Großen und Ganzen zufrieden“. Selbst wollte er sich nie einer Partei anschließen, auch dann nicht, wenn Parteilosigkeit den beruflichen Aufstieg behinderte.
Was ihm wichtiger war, nennt er „das freie Urteil in einem unabhängigen Kopf“. Er sagt: „Zu den Mitteln des Terrors zu greifen war falsch und dumm.“ Auch die sadistisch getönte Amoral der RAF stieß ihn ab: Als im Frühjahr 1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback erschossen wurde, zeigte RAF-Vordenker Andreas Baader den Vollzugsbeamten demonstrativ seine Freude über diesen Mord. Bubeck getraute sich, ihn zu fragen, ob er sich denn auch über die Ermordung der beiden Begleiter, eines Chauffeurs und eines Gerichtswachtmeisters, freue. Lachend antwortete Baader: „Die hätten doch auch bei der Straßenbahn arbeiten können, Bubeck – genau wie Sie!“
Nur wenig mehr als zwei Jahre ging die „Gruppe“ (oder „Bande“: das war damals eine heikle Frage) ihrem tödlichen Handwerk nach und versetzte eine ihrer selbst so unsichere Gesellschaft wie die bundesdeutsche in Angst, Wahn und Hysterie. Im Frühsommer 1972 wurden die Hauptakteure der RAF verhaftet. Es handelte sich um die vormals einflussreiche Journalistin Ulrike Meinhof, 38 Jahre, die Pfarrerstochter und Germanistin Gudrun Ensslin, 32 Jahre, den Diplomsoziologen Jan-Carl Raspe, 28 Jahre, den politischen Jungfilmemacher Holger Meins, 31 Jahre, sowie den Auto- und Waffenliebhaber Andreas Baader, 29 Jahre. Der war den anderen an Bildung zwar deutlich unterlegen, seinen Führungsanspruch aber konnte er trotzdem bis zum Schluss aufrechterhalten, vermutlich, wie die RAF-Analytikerin Jillian Becker meint, durch seine Männlichkeit, das einzige Talent, das Baader besessen habe.
Diese fünf sowie eine Reihe anderer Bandenmitglieder hatten in den zwei Jahren, in denen sie durch Schießereien und Banküberfälle, Kaufhausbrandstiftungen und Gefangenenbefreiung Schlagzeilen machten, zwar nie den von ihnen begehrten Rückhalt im Volk gewonnen, dafür aber ein Umfeld von Bewunderern erobert – unter anderem die so genannte SchiLi („schicke Linke“), die ihnen mit Bargeld, geschenkten Mittelklassewagen oder auch kostenlosen Unterkünften weiterhalf.
Diese ersten Sympathisanten der RAF saßen in einer Klemme: Sie hielten die Terroristen für Befreiungskämpfer, wollten selbst aber keine werden, sondern fern allen Risikos Freiheit und Wohlstand genießen, weshalb sie von ihrem schlechten Gewissen geplagt wurden. Dadurch erpressbar geworden, begünstigten sie den „Cäsarismus der RAF“ (so der Philosoph Wilhelm Schmid), also den despotischen Entschluss für den bewaffneten Kampf, ohne dass Rückfragen seitens der Gefolgschaft erlaubt gewesen wären. Tatsächlich war die RAF zu keiner Zeit bereit, mit der Linken eine offene Debatte über Gewalt zu führen. Wer ihre Gewalt („Natürlich kann geschossen werden“) nicht guthieß, wurde verhöhnt, denunziert, eingeschüchtert.
Zumindest die erste Generation fühlte sich zwar der antiautoritären Achtundsechzigerbewegung verpflichtet, sie wurzelte selbst jedoch in den Traditionen des deutschen Autoritarismus: Widerspruch ist unstatthaft, Fragen behindern den Lauf der Geschichte und Kritik grenzt an Verrat. Und die Sympathisanten ließen es mit sich geschehen.
Am 28. April 1977, genau 192 Verhandlungstage nach Prozessbeginn, wurde in einem Gerichtsgebäude nahe der Stammheimer Haftanstalt in Abwesenheit der Angeklagten das Urteil über Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe verhängt (Ulrike Meinhof hatte sich während des Prozesses in ihrer Stammheimer Zelle umgebracht, Holger Meins war noch vor Verhandlungsbeginn an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben): Alle drei wurden sie des Mordes in vier Fällen, außerdem des Mordversuchs in 34 Fällen sowie anderer Verbrechen (Bombenanschläge, Bildung einer kriminellen Vereinigung) schuldig gesprochen und jeweils zu lebenslanger Haft und außerdem fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Nicht verhandelt worden war der Fememord, den Baader nicht lange vor seiner Verhaftung an der ausstiegswilligen Ingeborg Barz in einer Kiesgrube am Altrhein bei Speyer begangen haben soll. Es fanden sich dafür jedoch keine schlüssigen Beweise, vor allem konnte die Leiche an dem Ort, den ein anderer Abtrünniger der RAF als Zeuge angegeben hatte, nicht gefunden werden. Die inhaftierte Aktivistin Brigitte Mohnhaupt behauptete später, so notierte es Stefan Aust, für „Verrat“ habe es in der Untergrundtruppe nicht die Todesstrafe gegeben, sondern nur „einen Eimer Teer über die Fresse und ein Schild um den Hals“.
Im Frühjahr und im Herbst 1974 wurden die Gefangenen in die Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim verlegt. Die Zusammenlegung betrieben vor allem die Anwälte der Häftlinge. Und der Staat gab nach, weil er hoffte, eine solche Zusammenlegung sei „friedensdienlich“, wie Horst Bubeck sagt. Zunächst zogen die Frauen ein: Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, die bisher in Köln-Ossendorf und in Essen eingesessen hatten; kurz darauf die Männer, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe, die aus den Gefängnissen in Schwalmstadt und Köln kamen.
Das war die höchste Prominenz der RAF, das – in sich freilich wieder hierarchisch untergliederte – Führungsquartett: oben unumschränkt Baader, im Gruppenjargon „Generaldirektor“ genannt; darunter die beiden Frauen, von Baader als „Zofen“ bezeichnet (wobei bei ihm Z und f leicht die Plätze tauschen konnten), die schon bald in einen heftigen Kleinkrieg miteinander traten, den Ulrike Meinhof verlieren sollte.
Im dritten Glied der stille Raspe, den manche der Stuttgarter Vollzugsbediensteten als „Baaders Hausburschen“ wahrnahmen, mit dem sich aber in zivilem Ton reden ließ, „wenn von den anderen keiner dabei war“, so Bubeck. Der Fünfte wäre Holger Meins gewesen, der aber im Gefängnis von Wittlich bleiben musste, weil sein durch Hungerstreik entkräfteter Körper den Transport nicht erlaubte.
Gegen diese Kerntruppe der RAF erhob der Generalbundesanwalt am 2. Oktober 1974 Anklage. Die Verhandlung sollte im Jahr darauf in Stuttgart beginnen. Es gibt in der Literatur zwei Meinungen, weshalb die Wahl auf Stuttgart fiel: Einmal, weil die RAF in dem Bundesland, dessen Hauptstadt es ist, ihre schwersten Verbrechen begangen habe; dann, weil dort – vom Sitz der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe aus – das sicherste Gefängnis der näheren und weiteren Umgebung stand: in Stammheim. „Kein Bundesland, auch nicht Baden-Württemberg, war erpicht auf diesen Prozess. Doch die Bundesanwaltschaft, die Herrin des Verfahrens, kann anklagen, wo sie will“, sagt Bubeck.
Sie tat es beim Oberlandesgericht in Stuttgart, dessen Zweiter Strafsenat mit der Verhandlungsführung betraut wurde. Die Kosten sollten von allen elf Bundesländern gemeinsam getragen werden; jedes Bundesland hatte obendrein Vollzugsbeamte nach Stammheim abzustellen. Der teuerste Posten, das waren jedoch die sechs Millionen Mark für den Bau, in dem das Tribunal über die Terroristen stattfinden sollte. Das Mehrzweckgebäude – bis heute geeignet für Prozesse gegen organisierte Kriminalität – war noch in Planung.
Weiteres Geld sollte für die Sicherheit des einstöckigen Baus ausgegeben werden: Gitterzäune, Flutlichter, aus denen er nachts angestrahlt werden konnte, und auf seinem Flachdach ein Stahlnetz zum Schutz gegen Bomben. Hinzu kamen ein Hubschrauberlandeplatz, Pferdeställe, Hundeboxen. Die Botschaft, die die RAF-Gefangenen durch so viel staatliche Aufmerksamkeit empfangen mussten, lautete: Seht, wie wichtig, wie gefährlich ihr seid!
Das Gerichtsgebäude sollte unmittelbar auf der anderen Seite der Gefängnismauer errichtet werden, was Bubeck allerdings mit Skepsis aufnahm. Denn formal war die Forderung des Gerichtsverfassungsgesetzes zwar erfüllt, dass kein Verfahren innerhalb einer Haftanstalt abgehalten werden darf, die räumliche Trennung zwischen Knast und Gericht jedoch schien ihm zu gering und darum „eher symbolisch“. Eine solche Nähe konnte im Verlauf des Prozesses zu Komplikationen führen. Und Bubeck behielt Recht. Doch nie hätte er auch nur geahnt, dass die Nähe von Haftanstalt und Gerichtsgebäude jenes Verbrechen begünstigen könnte, das zum Ende der ersten RAF-Generation durch gemeinsam verabredeten Selbstmord führte: das Einschmuggeln von Waffen.
Die Gefangenen wussten spätestens seit ihrem Einzug in Stammheim, dass alle Welt auf sie schaute. Ihre Behandlung im Gerichtssaal oder in der Haftanstalt musste zur Bewährungsprobe für den bundesdeutschen Rechtsstaat werden, der zugleich der Nachfolgestaat des untergegangenen Hitlerreichs war. Wie würde er mit Gefangenen umspringen, die keine gewöhnlichen Kriminellen sein wollten, sondern sich als „politische Gefangene“ verstanden, die Anspruch auf Behandlung nach der Genfer Konvention erhoben und nicht dem deutschen Strafgesetzbuch unterworfen sein wollten? Plötzlich sah sich die RAF von Superlativen umstellt, die ihr keineswegs missfielen: Stammheim, im Stuttgarter Volksmund bis dato harmlos „das Männerwohnheim“ genannt, wurde nach ihrem Einzug „zum sichersten Gefängnis der Welt“.
Auch der Terminus „Hochsicherheitstrakt“ kam in jenen Tagen auf. Er war, wie Bubeck sich erinnert, eine Medienschöpfung. „Das Wort war plötzlich da“, sagt er, „und wurde von den RAF-Gefangenen begierig aufgegriffen.“ Es sollte zur Deutungsfolie für alles Kommende werden. Auch die nahende Hauptverhandlung erhielt ihren Superlativ. Schon weit vor Beginn wurde sie zum „bedeutendsten Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik“ erklärt. Darin schwang unüberhörbar auch die – ängstliche oder hoffnungsvolle – Vermutung mit, dass in diesem Prozess die westdeutsche Demokratie selbst vor die Schranken des Gerichts geraten könnte.
1974 wurde für die ersten vier Gefangenen der RAF in Stammheim ein Stockwerk vollständig geräumt. Es war die siebte Abteilung im „kurzen Flügel“ der Justizvollzugsanstalt, sozusagen gleich unter dem Dach. Sie besteht aus dreißig Zellen. Nach und nach, so der Gedanke, sollten hier noch weitere inhaftierte Terroristen untergebracht werden. Die für den siebten Stock verantwortlichen Vollzugsbeamten stießen nun erstmals an die Grenzen ihrer Berufserfahrung. „Wir waren durch unsere Ausbildung auf solche Gefangenen nicht vorbereitet. Uns schwante, dass Baader, Meinhof und die anderen einen neuen Typ von Häftling verkörperten“, sagt Bubeck.
„Ohne Getöse“ hätten sie deren Untersuchungshaft organisieren sollen, kein martialisches Auftreten, keine Festungsstimmung. Doch ihn und seine Kollegen plagte ein schlechtes Vorgefühl. Sie hatten sich in den Strafanstalten umgehört, in denen die RAF-Terroristen bisher eingesessen hatten, und zum Beispiel danach gefragt, „wie sie sich dem Gefängnispersonal gegenüber verhalten“. Nach den Auskünften, die sie eingeholt hatten, nämlich dass die Gefangenen sich mit Ausnahme Raspes oft genug beleidigend verhielten, ahnte Bubeck: „Das wird nicht schön.“ Als Ulrike Meinhof in Stammheim ankam, wusste er es genauer: Sie stieg aus dem Transporter – und trat ihm in den Unterleib.
Der Ruf, den Stammheim sich damals zuzog, sollte lange nachhallen. Ein harmloser Ortsname wurde in wenigen Monaten zur Metapher für das „Furchtsyndrom der Zeit“ (so der Tübinger Kriminologe Hans-Jürgen Kerner). Die Macht dieser Metapher war so groß, dass sie selbst auf den ersten Terroristenfahnder der Republik übergriff, auf den Chef des Bundeskriminalamts, Horst Herold, der von „meinem Stammheim“ sprach, nachdem er Dienstsitz und Privatquartier in seiner Wiesbadener Behörde zusammengelegt hatte.
Ein spätes Echo dieses Rufs kann man beim Besuch des Strafvollzugsmuseums in Ludwigsburg hören. „Ganze Schulklassen“, sagt Museumsdirektor Erich Viehhöfer von seinem Publikum, „glauben, es gebe hier in der Gegend ein Gefängnis, das den Namen das Stammheim trägt – ein Gattungsname. Sie fallen aus allen Wolken, wenn ich ihnen verrate, dass Stammheim nur der Name eines Stuttgarter Stadtteils ist.“
Ein Ort, der damals besonders Jüngeren als Terrain erschien, an dem die wahre Staatsverfassung offen zutage lag: In Stammheim half keine Tarnung. Hier schlugen einfache Staatszweifel in gefährliche Gewissheit um. Stammheim, das war der auch architektonisch (kalter, abweisender Beton) erkennbare Faschismusbeweis. Eine frühere RAF-Sympathisantin, damals Anfang zwanzig und nach eigener Auskunft selbst gefährdet, in den Untergrund abzugleiten, bezeichnet Stammheim als eine „feste Größe meiner Sozialisation“. Sie stammt aus einer Musikerfamilie und ist selbst Musikerin geworden, ihr musikalischer Gott heißt Johann Sebastian Bach. In Stammheim, so glaubte sie wie viele ihrer Generation sehr lange Zeit, habe sie die Schule westdeutschen Außenseitertums durchlaufen.
Von innen kannte sie allerdings nur das Gerichtsgebäude. Doch wer sich so wie sie mit der Beweiskraft des bloßen Augenscheins zufrieden gab, konnte in Stammheim leicht fündig werden. War der Kriegszustand hier nicht auf den ersten Blick zu erkennen: Schützenpanzer, berittene Polizei, schärfste Kontrollen bei den Prozessbesuchern? Sie erinnert sich heute noch genau: „Stammheim war feindliches Gebiet, auch der Stadtteil selbst, der doch eher einem Dorf am Ackerrand glich, obwohl er einen Straßenbahnanschluss hatte: Misstrauen und stummer Hass in der Eisdiele, das war deutlich zu spüren. Alle Bewohner dort schienen wie dressiert. Junge Leute, die den Prozess besuchten und in den Pausen in einem Lokal eine Kleinigkeit essen wollten, wurden angepöbelt und flogen gleich wieder raus, grundlos.“
Und was sie als junge Frau in Stammheim nicht sehen oder spüren konnte, das glaubte sie felsenfest zu wissen. Nämlich dass im Innern des „Hochsicherheitstrakts“ die „weiße Folter“ der Isolation gegen die RAF-Gefangenen angewandt wurde: kahle Wände, Schalldämmung, ewiges Licht und permanente Abhörung. Nur die Taten der RAF passten nicht ins Bild. Sehr irdische Dinge gaben ihrem Leben schließlich eine andere Richtung. Sie hat Kinder und einen Beruf, der ihr Freude macht. Fast möchte man sie glücklich nennen. Manchmal erschrickt sie, wenn sie daran denkt, „wie knapp“ bei ihr die Entscheidung war – nicht in den Untergrund zu gehen.
Das Erste, was in Stammheim beim Einzug der Terroristen verändert wurde, waren die Zellenschlösser. „An jeder Tür brachten wir zur doppelten Sicherung noch eine zweite Schließanlage an. So sehr waren alle, auch wir, vom Geist der Zeit angesteckt“, sagt Bubeck. Auch das Gitter am Eingang zur siebten Abteilung wurde verdoppelt. Sonst gab es keine Änderungen, die die Steigerung von „Sicherheit“ zu „Hochsicherheit“ gerechtfertigt hätten.
Alle begannen ihre Stammheimer Zeit in einer Einzelzelle. Doch während Andreas Baader und Jan-Carl Raspe anfänglich auch noch in Einzelhaft saßen, durften Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin von Beginn an in einer Zelle zusammenleben. Aber schon nach kurzer Zeit wurde für Baader vom Gericht „aus medizinischen Gründen“ eine Doppelzelle angeordnet. Das bedeutete, dass sich unverzüglich der Gefängnisbautrupp in Bewegung setzen und die Wand zwischen zwei Einzelzellen durchbrechen musste, damit Baader gleich neben seiner Wohnzelle eigens eine Schlafzelle beziehen konnte.
Ebenfalls noch in den ersten Wochen beantragten die Gefangenen bei dem für ihre Haftbedingungen zuständigen Gericht einen „Umschluss“. Bubeck, der das Wort nicht kannte, fragte Baader, was es bedeute, und Baader antwortete ihm: sich für eine bestimmte Zeit mit den anderen drei in einer Zelle einschließen lassen, Männer und Frauen gemeinsam und unbeaufsichtigt. Die Zusammenkunft wurde genehmigt – für anderthalb Stunden täglich, eine halbe Stunde mehr als gefordert.
Allerdings durfte das RAF-Quartett nicht in einer Zelle zusammenkommen, sondern nur draußen im rund fünf Meter breiten Gang, an einem Tisch mit Stühlen und unter Aufsicht. Der Zweck dieser Vergünstigung war nicht Freizeitgestaltung, sondern Prozessvorbereitung – so hatten auch die Gefangenen ihren Antrag auf Umschluss begründet. Das Gericht wollte sich auf keinen Fall den Vorwurf einhandeln, es erlaube den Gefangenen keine optimale Aktenkenntnis. Dazu hebelte es zunächst die wichtigste Regel der U-Haft aus, die besagt, dass Angeklagte in derselben Sache keinen Kontakt miteinander haben dürfen. Dazu wiederum musste das strengste Tabu jeden Strafvollzugs außer Kraft gesetzt werden: die Trennung von Männern und Frauen.
Um sie aufzuheben, durfte Bubecks Team aus Spanplatten eine verlängerte spanische Wand anfertigen, hinter der hervor die beiden Frauen den Männern am Tisch „zugeführt“ wurden. Das von Baader erfundene Wort „Umschluss“ aber ging in den Knastjargon ebenso wie ins amtliche Vokabular des Strafvollzugs ein. Die Haftbedingungen in den vorherigen Gefängnissen der RAF waren völlig andere gewesen.
Etwa in Köln-Ossendorf, wo Ulrike Meinhof für acht Monate in der „stillen Abteilung“ gesessen und dafür den Begriff „toter Trakt“ geprägt hatte. Nicht ganz zu Unrecht, denn sie hatte dort ihre Zeit in Einzelhaft verbringen müssen, in einer schalldichten, rund um die Uhr mit hellem Licht ausgestrahlten Zelle. Kontakte zu anderen Häftlingen waren nicht gestattet. „Klares Bewusstsein, dass man keine Überlebenschance hat“, notierte sie in dieser Lage.
Dergleichen gab es in Stammheim nicht – „und nur für Stammheim spreche ich“, so Bubeck. In der schwäbischen Untersuchungshaftanstalt fanden die RAF-Gefangenen etliche Bedingungen aus dem Normalvollzug vor. Etwa den Hofgang mit anderen Häftlingen oder die Teilnahme an gemeinsamen Veranstaltungen, wenn auch unter der Bedingung, sich vorher und hinterher jedes Mal umzukleiden. Beides verschmähten sie jedoch, und zwar ausdrücklich, weil sie Angst vor Spitzeln hatten, in Wahrheit aber vermutlich, weil sie fürchteten, einen Trumpf ihrer Öffentlichkeitsarbeit („Isolationshaft“) aus der Hand zu geben, bevor er ausgereizt war. „Denn von ‚Isolation in Stammheim‘ war in der Öffentlichkeit schon die Rede, da waren sie noch nicht einmal richtig da.“
Wenn die Gefangenen im Zellengang saßen und sich auf ihren Prozess vorbereiteten, wurden sie von einem Vollzugsbeamten beaufsichtigt. Das Gericht hatte verfügt, dass die Aufsichtsperson in 7,5 Meter Entfernung auf einem Stuhl zu sitzen habe, sodass sie „sehen, aber nicht hören“ könne. Da sie aber dennoch hörte – und zwar, dass die vier sich über alles unterhielten, nur nicht über ihren Prozess – machte sie dem Gericht Meldung. Mit dem Erfolg, dass der Abstand auf 15 Meter verdoppelt wurde, was den Gefangenen nicht entging.
Wenig später kommentierten sie den Vorfall auf ihre Art: Sie bauten aus Zeitungspapier, aus einem Pullover und einer Feinstrumpfhose sowie einem Anstaltshandtuch einen lebensgroßen Popanz, platzierten ihn auf dem Stuhl des Aufsichtsbeamten, als dieser sich einmal kurz erhoben hatte, und hängten an die Wand darüber das Bild eines Schweinekopfs. Das entsprach jener Strategie der Verachtung, die die RAF gegen die Vollzugsbediensteten anwendete – diesmal in spielerischer Variante. Die Gefangenen lachten über ihr Werk. „So sehr“, sagt Bubeck ironisch, „wurden wir von ihnen gefürchtet!“
Bubeck weiß das, obwohl er als stellvertretender Vollzugsdienstleiter sein Büro nicht innerhalb der siebten Abteilung hatte, sondern sieben Stockwerke darunter, im Verwaltungsbereich der Anstalt. Freilich versuchte er täglich, sowohl beim morgendlichen Zellenaufschluss wie auch beim abendlichen Einschluss, im Terroristentrakt anwesend zu sein – auch zu den Essenszeiten. „Es werden im Durchschnitt drei, vier Besuche am Tag gewesen sein“, sagt Bubeck. In „außergewöhnlichen Zeiten“, etwa während der Hungerstreiks, möge die Zahl seiner Besuche noch gestiegen sein. Auch wenn Baader etwas begehrte, musste er hinauf. Denn den Kontakt mit ihm, der schnell aus der Haut fahren konnte, überließen seine Kollegen gern ihrem Vorgesetzten.
Das erste Gesetz für den Umgang des Vollzugsdiensts mit den Häftlingen lautet: Es heißt immer „Herr“ (oder „Frau“) und „Sie“. Die Mitglieder des späteren Untersuchungsausschusses im Landesparlament lachten, als sie von so viel Höflichkeit im Knast erfuhren. „Auch die RAF-Gefangenen haben wir so behandelt: Herr und Frau, guten Morgen oder ’n Abend, Mahlzeit oder gute Nacht – freilich ohne je eine Antwort zu erhalten. Wenn sie ‚Herr‘ vor unsere Namen setzten und auch noch ‚Sie‘ sagten, wussten wir: Ah, jetzt wird etwas gewünscht.“ Wie etwa in einem Schreiben von Ulrike Meinhof: „Herr Bubeck, ich möchte wissen, was dieser Kopfhörer kostet (Yamaha). Wenn er unter DM 200 kostet, bestellen Sie ihn gleich.“ Trotz bürgerlicher Anrede: eine Ungeduld, die nur schwer den Kommandoton verbergen konnte.
Höflichkeit dem Gefängnispersonal gegenüber galt der RAF wenig. Aber auch den Anwälten erging es in dieser Hinsicht nicht besser. Während der Hauptverhandlung schrie Baader mehrmals durch den Saal: „He, du, Schily!“ Bis der Verteidiger sich ihm zuwandte und „Herr Schily, bitte!“ sagte. Gudrun Ensslin, die von manchen als begabte Pädagogin geschildert wird, neigte dazu, Lektionen zu erteilen. So verlangte sie einmal, dass im Zellengang des siebten Stocks eine Leuchtstoffröhre herausgenommen werde, weil sie sich von ihr geblendet fühle. Bubeck ließ sie wissen, dass sie sich in dem geräumigen Gang nur ein wenig anders hinzusetzen brauche, um dem Neonlicht auszuweichen. Daraufhin lief sie in ihre Zelle, kam mit einem Besen zurück und zertrümmerte mit dessen Stiel die Lampe. „Bubeck, so machen wir das Licht aus!“
Schon 1973 hatte die Gruppe sich einen Verhaltenskodex für das Leben im Knast gegeben, worin zuallererst „vernichtendes Schweigen“ gegenüber den Justizvollzugsbeamten gefordert wurde. Weiter solle man „unversöhnlich“ und „unerbittlich“ sein, allerdings ohne sich je „zu irgendwas hinreißen zu lassen“. Die RAF nannte das: „Methode Mensch“. Für Baader jedoch kann dieser Kodex unmöglich gegolten haben, er verlor sehr oft die Beherrschung. Dann spie er – nicht allein gegen die Beamten – Beleidigungen aus. Noch lieber drohte er: dass man bloß aufpassen solle, auf seine Frau, seine Kinder, sein Auto. Denn sein, Baaders, Arm reiche weit.
Von Fall zu Fall war Baader über die Lebensumstände des Haftpersonals verblüffend gut unterrichtet. Nur bei Bubeck irrte er sich und erhielt zur Antwort: „Die Drohung mit den Kindern können Sie sich sparen. Ich habe keine.“ Ob Bubeck sich nicht dennoch fürchtete? „Nein. Die RAF hätte uns nie so hoch eingestuft, dass wir es wert gewesen wären, von ihr erschossen zu werden. Sie war auf Leute fixiert, die mehr Macht hatten als wir.“
Der RAF-Kodex für den Knast hätte, nach allem, was der stellvertretende Vollzugsdienstleiter erlebte, anders lauten müssen. Denn in Wirklichkeit übten die Gefangenen nicht den dort geforderten „passiven Widerstand“, vielmehr versuchten sie mit ihren Mitteln, „die Hierarchie umzudrehen“. Und das war gar nicht so aussichtslos, wie man es von einer Haftanstalt annehmen sollte. Denn die Gefangenen besaßen neben dem Trumpf „Isolation“ noch den der „Öffentlichkeit“. Bubeck sagt: „Der kleinste Fehler von unserer Seite hätte morgen in der Frankfurter Rundschau gestanden und wäre dem ‚System‘ angelastet worden. Deshalb wurde für den Dienst im siebten Stock ein Höchstmaß an Diplomatie benötigt. Ständig war man hier härtesten Provokationen ausgesetzt, vor allem durch Schmähungen und Kränkungen. Das Ziel war: Man sollte sich vergessen, um sie im Affekt zu schlagen oder niederzubrüllen.“
Doch die RAF-Gefangenen verrechneten sich. Bubeck und seine Kollegen hatten sich im Griff: Von ihren 32 Händen ist in mehr als drei Jahren nicht eine einzige ausgerutscht.
Bubeck hat die Untersuchungsgefangenen noch aus einer anderen Perspektive kennen lernen können: als Mann ohne akademischen Habitus. Der Arbeitersohn musste gelegentlich um Nachhilfe bitten, ehe er die Anliegen der RAF-Gefangenen und ihre mit soziologischen Begriffen gesättigte Sprache verstand: „Frau Ensslin, bitte auf Deutsch!“ Den Kampf, der im siebten Stock auf dem Wissenssektor tobte, bringt er auf die Formel „Universität gegen Volksschule“. Im Unterschied zu den Bildungswunderkindern mit der langen Studiendauer war er im Alter von fünfzehn Jahren in eine Lehre als Herrenfriseur geschickt worden. Ein Beruf, den er nicht liebte, weshalb er als Arbeiter zum Fernmeldeamt ging, um nach einer weiteren Ausbildung in den einfachen Beamtendienst zu gelangen. In den Strafvollzug wechselte Bubeck 1963. „Da wurden zu der Zeit Leute gesucht, und man erhielt die Chance, in den mittleren Dienst aufzusteigen. Für mich war das der entscheidende Grund, Vollzugsbeamter zu werden.“
In Stammheim verbesserten sich die Haftbedingungen andauernd. Antrag auf Antrag wurde von den Anwälten der RAF beim zuständigen Oberlandesgericht eingereicht – und so gut wie jeder genehmigt. Liest man den Katalog der Haftbedingungen, unter denen die RAF-Häftlinge der ersten Generation bis zum September 1977 in Stammheim ihre Zeit verbrachten, kann man nicht umhin, sie als äußerst fürsorglich behandelte und hoch begünstigte Sondergefangene zu bezeichnen. Bubeck hatte mit seiner Mannschaft alle Hände voll zu tun, die Privilegien der RAF-Gefangenen vor den übrigen 750 Insassen der Haftanstalt zu verschleiern. Denn zum einen wollten sie keine Revolte unter den übrigen Gefangenen heraufbeschwören. Und zum anderen schämten sie sich, weil sie ein System von Privilegien stützen mussten, das gegen sämtliche ihrer Vorstellungen von Gerechtigkeit im Knast verstieß.
Bubeck wurde einmal von gewöhnlichen Gefangenen gefragt, ob „die da oben“ Partys feiern dürften – das war, als Baader seine Musikanlage wieder einmal so aufdrehte, dass man die Bässe noch in den Zellen zwei Stock tiefer wummern hörte. Er ging zu Baader und sagte ihm: „Wenn Sie unbedingt wollen, dass die anderen Häftlinge erfahren, wie Sie hier wirklich leben, brauchen Sie nur noch lauter zu stellen.“ Von da an, immerhin, benutzte Baader öfter einen Kopfhörer.
Dafür war die Umschlusszeit in wenigen Schritten vervielfacht worden. Bei offenen Zellentüren und mittlerweile ohne Trennwand durften die RAF-Gefangenen acht Stunden gemeinsam im Gang zubringen. Eingeschlossen waren sie nur noch von abends sechs bis morgens acht, wobei sie wahlweise zusammen übernachten konnten, allerdings nicht Männer und Frauen. Einzig in Sachen Sex galt für die Häftlinge im siebten Stock: Knast ist Knast für alle gleichermaßen. „Was uns gerade noch gefehlt hätte, wäre die Schlagzeile gewesen: ‚Gudrun Ensslin schwanger!‘ “
Tagsüber saßen die RAF-Gefangenen im Gang auf Kissen und Decken. Frühaufsteher Raspe sichtete die vier Tageszeitungen, die jeder von ihnen nach eigener Wahl beziehen konnte, und fertigte für den Spätaufsteher Baader mit Schere und Klebstoff einen Pressespiegel an. Das Gericht wollte, dass jede nur erdenkliche Information von außen die prozessvorbereitenden Gefangenen erreichte. Und der Vollzug hatte diese Vorgabe zu gewährleisten.
Rundfunkgeräte besaßen sowieso alle RAF-Häftlinge von Anfang an. Wenig später bekam jeder noch einen Fernsehapparat auf die Zelle. Die anderen Gefangenen durften pro Woche zwei Stunden vor dem kollektiven Knastkasten verbringen. Der Vollzugsdienst hatte der RAF die Prospekte beschaffen müssen. Danach konnte Bubeck sich auf den Weg machen, um die ausgesuchten Geräte zu besorgen.
Für ihn war das eine dieser Situationen, in denen er seiner Ironie freien Lauf lassen musste: Als Bubeck das Elektrogeschäft wieder verließ, dachte er, über dessen Eingang könne man doch im Stil alter Hofbuchhandlungen oder Hofkonditoreien die Schrift anbringen: „Hier kauft die RAF!“ Wobei anzumerken ist, dass alles, was deren Mitglieder käuflich erwerben ließen, nicht vom Staat, sondern von Freunden und Angehörigen bezahlt wurde.
Die Rechnung für Ulrike Meinhofs Kopfhörer etwa hätte Rechtsanwalt Schily begleichen sollen. So wünschte es zumindest die Gefangene. Bubeck leitete den Wunsch weiter, doch Schily teilte mit: „Sagen Sie ihr, dass ich der Anwalt bin und nicht der Weihnachtsmann.“ Davon erfuhr auch Gudrun Ensslin. Sie tippte sogleich einen Kurzbrief an Baader und bat Bubeck, da der Umschluss schon vorüber war, ihn zu überbringen – der Vollzugsbeamte als Botengänger. Unter anderem heißt es in dem Ensslin-Schreiben: „Schily hat geantwortet, dass er nicht bezahlen wird“ – so viel Renitenz und auch noch von einem Verteidiger: Das stieß der RAF sauer auf.
Jeder der Inhaftierten durfte im siebten Stock eine Dreierzelle beziehen. Baader belegte – allein – zum Teil eine Fünferzelle, für Knastverhältnisse ein Appartement de luxe. Raspe bestand weiterhin auf einer Einmannzelle, er war der Asket unter den RAF-Spitzenleuten. Jeder Gefangene durfte außerdem hunderte von Büchern in der eigenen sowie in einer gesonderten „Bücherzelle“ aufbewahren, darunter auch Literatur zur Weiterbildung für die Stadtguerilla oder Militaria aus der DDR. Ebenso: jede Menge Schallplatten. Auch Musikinstrumente; Gudrun Ensslin besaß eine Geige.
Der Privilegien kein Ende: Doppelt so viel Hofgang wie der große Rest hatten die RAF-Untersuchungshäftlinge, in der Gruppe oder einzeln. Überdies weit mehr Besuch, oft täglich; jeder normale Untersuchungshäftling empfing höchstens zweimal im Monat Besuch. Auch wurde der RAF täglich eine halbe Stunde Duschzeit gewährt – die „Normalen“ duschten eine Viertelstunde pro Woche. Und dann das rarste Privileg: rund um die Uhr nach Wunsch elektrisches Licht, das für alle anderen in Stammheim abends um zehn unwiderruflich ausging. Jetzt bedurfte es nicht länger der Thermoskanne mit doppeltem Boden, in der Baader seine trickreich eroberten Glühbirnen versteckte.
Wer sich lange mit dem Knast der Knäste beschäftigt, fühlt sich mehr und mehr zu ihm hingezogen. Also ein Ortstermin. Eine Fahrt in die Industriezone des Stuttgarter Nordens. Um vielleicht das Geheimnis dieses gräulich-weißlichen Monsters aus Stahl und Beton zu spüren. Aber nichts rührt sich. Nur das Rauschen der nahen Autobahn ist zu hören. Der Gefängnisbau – lang und hoch – passt nicht schlecht in seine Umgebung: Kräne, Gaskessel, Überlandleitungen, Fabrikschlote, Hochhäuser. Anrührend und wohltuend nur die kleine, nicht zur Anstalt gehörende Gartenkolonie an ihrer Westseite. Schafgarbe, Habichtskraut.
Nicht weit davon ein Streifen Ackerland, auf dem ein Bauer seine Arbeit tut. Hier gehen Stadt und Land ineinander über. Und genau auf der Grenze: Stammheim. Viel hat sich seit damals offenbar nicht geändert: grobmaschiger Zaun, obendrauf Natodraht, dahinter der Grünstreifen mit Scheinwerfern und Videokameras, dann die Gefängnismauer. „Hochsicherheit“ würde dazu heute keiner mehr sagen. Welche Strafanstalt ist weniger gesichert?
Dort der Parkplatz, auf dem während der „Kontaktsperren“-Zeit das Medienheerlager war. Gleich links, hoch darüber der siebte Stock. Kurzer Flügel, gemischte Gefühle. Am auffälligsten ist das Sägezahnmuster der Fassade. Um 1960 war es der letzte Schrei in der Kunst des Gefängnisbaus. Eine Architektur, die verhindern soll, dass die Gefangenen durch das Fenster Kontakt miteinander aufnehmen. Denn beim Hinausschauen kann jeder nur auf die Rückseite seiner Nachbarzelle sehen.
Plötzlich eine Stimme von drinnen. Überdeutlich. Doch der Rufer ist im Gewirr der Linien mit dem Auge nicht auszumachen. „Was schreibst du auf?“, fragt er. „Bist du Journalist? Ich hätt‘ was für dich …“ Eine zweite Stimme, lauter: „Sag nix, sag nix – dem Hurensohn!“
Der nächste Ortstermin: utopisch. Er müsste drinnen stattfinden, im Gefängnis von Stammheim. Unmöglich. Stammheim ist nicht Neuschwanstein. Mit weniger als gar keinen Erwartungen rufe ich den Anstaltsleiter Maximilian Schumacher an: „Doch, doch, Sie dürfen hier rein. Es gibt Journalistenführungen. Melden Sie sich beim baden-württembergischen Justizministerium.“ Er ergänzt auf Nachfrage: „Nein, nicht weil man Sie dort kontrollieren will, sondern weil wir als Anstalt die vielen Anträge nicht bearbeiten können. Was meinen Sie, wer uns alles besuchen möchte? Fernsehteams zum Beispiel, um für einen Krimi mit der Kamera kurz durch einen der Zellengänge zu fahren. Die Knastszene spielt dann zwar nicht in Stamm-, sondern in Stadelheim – aber im Abspann soll ‚Stammheim‘ stehen.“ Stammheim, das Gruselwort.
Keine Fragebögen, kein Führungszeugnis. Erst bei meiner Ankunft zur Einzelführung muss ich an der Pforte meinen Ausweis hinterlegen. Danach ein Check mit dem Metalldetektor. „Warum ist es so leicht, nach Stammheim zu kommen?“, frage ich den stellvertretenden Vollzugsdienstleiter Hans-Jürgen Joachim. „Weil wir nichts zu verbergen haben und den alten Legenden die Luft rauslassen möchten.“
Schon damals hätte man es so halten sollen, meint er: unabhängige Journalisten reinlassen, die sich ihr eigenes Bild machen. Etwa auf dem Dachhof, von dem behauptet wurde, er sei als Drahtkäfig errichtet worden, um darin Baader & Co. wie wilde Tiere zu halten.
Der Hof sieht tatsächlich wie eine Voliere aus: viel Draht an eisernen Pfosten. Doch der war lange vor den RAF-Gefangenen da. Dieser Dachhof ist aber einfach der Ort, an dem die Gefangenen der Stockwerke vier bis sieben täglich Hofgang haben. Joachim zum heutigen Selbstverständnis seines Gefängnisses: „Wir sind fast ein Reformknast.“ Außer der Krankenabteilung, der Kirche und der Sporthalle zeigt er mir auch die Ausbildungswerkstätten, die Drogenberatung und die Sprachschule. „Wir versuchen, manches nachzuholen, was die Gesellschaft versäumt hat.“
Vollzug habe die Wiedereingliederung zum Ziel. Er sei ein Organ der dritten Gewalt, der Gerechtigkeit und nicht in erster Linie strafender Arm und richtendes Auge des Staates. Wie um ein Symbol dafür zu geben, deutet Joachim auf den Spion in einer Zellentür. Er ist übermalt und damit unbrauchbar. „Keiner von uns möchte durch so ein Guckloch auf die Häftlinge blicken.“ Vollzugsbeamte seien eben keine Wärter – „der schlimmste Titel, den Sie uns verleihen können“.
Sein eigenes Verhältnis zu den Gefangenen nennt er, der einmal drei Stunden lang das Messer eines meuternden Häftlings am Hals hatte, „sportlich“. Was vor allem bedeutet: nicht moralisch. Oder mit anderen Worten: Häftling, lass uns die Zeit, die wir hier drin erzwungenermaßen miteinander verbringen, in gegenseitiger Achtung und Fairness verbringen. „Aber wollten Sie nicht auch in den siebten Stock?“
In Stammheim, so Joachim beim Aufstieg durchs Treppenhaus, säßen heute keine „TE-Gefangenen“, keine Terroristen, mehr ein. Wir steuern Zelle 719 an, eine helle Eckzelle mit drei doppelstöckigen Betten. In ihr haben sich sowohl Ulrike Meinhof als auch Andreas Baader das Leben genommen. Es ist gerade Umschluss, ein Häftling steht rauchend in der offenen Tür. Ob wir eintreten dürfen? Warum nicht. Der Häftling grinst: „Sie kommen wegen der Terroristen?“ – Ja. – „Morgen kommt das Fernsehen unsere Zelle filmen.“ Drinnen läuft der Fernsehapparat, der heute in jeder Zelle steht. 32 Kanäle. Über einem der Betten in Baader/Meinhofs Zelle der Spruch: „Only Jesus can save“. Nach zweieinhalb Stunden bin ich wieder draußen. Ein seltsamer, kindlich-stolzer Blick zurück: Jetzt warst du in Stammheim!
Die RAF-Kämpfer der ersten Generation sahen sich als Revolutionäre, denen in ihrem Krieg alles erlaubt war, auch die Lüge. Das galt umso mehr in Gefangenschaft, wobei zumindest ein Teil ihrer Energien aus dem verzweifelten Antrieb aller Gefangenen gespeist wurde: herauszukommen, nichts als heraus.
Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe hatten lange Haftstrafen vor sich und nicht nur vorläufig keine Aussicht auf die Milde, vorzeitig entlassen zu werden, die manche ihrer Nachfolger in den Achtziger- und Neunzigerjahren erfuhren. Nachdem der bewaffnete Kampf aus dem Untergrund für sie verloren war, wurde das Gefängnis zum Kriegsschauplatz. Dieser Ort bot den Vorteil, dass er schwer einsehbar war – eine gute Ausgangslage zur Bildung von Legenden. Gut gewählt musste auch der Gegenstand des Kriegsstreits sein, sozusagen der Zankapfel. Die Gefangenen entschieden sich bei dessen Wahl zielsicher für die Haftbedingungen.
Zumindest die erste Generation der RAF hatte somit im Knast schon bald nur noch ein einziges Thema: sich selbst und ihr Leben hinter Gittern. Jetzt musste ein Bild der eigenen Bedrohung geschaffen werden. Die Bedrohung hieß „Isolationsfolter“ und, in der Steigerung, „Mord“. Wie lautete doch der Grund, den Ulrike Meinhof angab, als sie den Philosophen Jean-Paul Sartre brieflich bat, Baader zu besuchen und ihm durch ein „Interview“ öffentlich Gehör zu verschaffen? Er lautete: „weil die Bullen beabsichtigen, Andreas zu ermorden“.
Diese Strategie, ein Bedrohtsein öffentlich zu inszenieren, wurde auch beibehalten, als die Gefangenen, so wie in Stammheim, unter weit besseren Haftbedingungen lebten als zuvor. Nur eine ideologische Korrektur war nicht zu vermeiden, wenn man „toter Trakt“ und „Isolation“ miteinander verglich: „Auschwitz“ musste zu „Buchenwald“ abgeschwächt werden. Was wahrscheinlich bedeuten sollte, dass man sich nicht mehr in einem Vernichtungslager fühlte, sondern in einem politischen Gefangenenlager, in dem die Aussicht aufs Überleben wenigstens minimal wuchs.
Denn: „Buchenwald haben mehr überlebt als Auschwitz … Wie wir uns drin ja nur darüber wundern können, dass wir nicht abgespritzt werden.“ Das stand zwar in einem der „Infos“, die nur unter RAF-Gefangenen in verschiedenen Anstalten kursierten und von sympathisierenden Anwälten in Umlauf gebracht wurden, entsprach aber genau dem Bild, das sie von sich entwerfen und mit dem sie draußen geschichtlich aufgeladenen Erpressungsdruck entfalten wollten. Man sollte sie als verspätete Naziopfer sehen. Alsdann wurde für den Krieg aus dem Knast heraus eine breite gemeinsame Front benötigt. Die einzelnen Kampfposten hielten durch Meldegänger Kontakt miteinander, eine Rolle, die der willfährige Teil der Anwälte besetzte, besonders wenn es galt, einen Hungerstreik zu koordinieren.
Damit ist bereits die Hauptwaffe in diesem Krieg angesprochen: der eigene Körper. Unverzichtbar waren Bündnispartner außerhalb des Gefängnisses. Das durften nicht nur neue Gesinnungsgenossen und bewaffnete Nacheiferer sein. Vielmehr musste unter allen Umständen die liberale Öffentlichkeit gewonnen werden, wenn möglich mit ihren wichtigsten Vertretern, denen die Medien jederzeit offen standen. Empörung und Zorn waren zu wecken. Aber auch Mitleid und Solidarität. So wie durch die Kampagne „Zahnersatz für Gudrun Ensslin“, bei der, wie Horst Bubeck sagt, „der Staat so dargestellt wurde, als lasse er es an der medizinischen Grundversorgung der RAF-Gefangenen fehlen“.
Eine kluge Strategie, allerdings nur, weil in den Aufrufen unterschlagen wurde, dass der Staat die Zahnarztkosten der Untersuchungsgefangenen der RAF selbstverständlich übernahm, so wie die Krankenkasse es bei allen Kassenpatienten tut. Nur Kosten, die den Kassenanteil überstiegen, mussten die Gefangenen selbst bezahlen.
Kommandozentrale im Krieg der Gefangenen war gleichfalls der siebte Stock von Stammheim. „Was die vier alles unternommen haben, um mit dem Komplex ‚Haftbedingungen‘ erfolgreich zu agitieren“, sagt Bubeck, „das kann man auch unter den Gesichtspunkten des modernen Marketings nur genial nennen.“
Kampfmethode Nummer eins gegen die staatlichen „Vernichtungsmaßnahmen“ war der Hungerstreik. Die Lebensgefahr, der sich die Streikenden dabei aussetzten, sollte den Ernst ihrer Lage bezeugen. In jenen Jahren griff die RAF fünfmal zu dieser Methode, stets begleitet von einem mächtigen Presseecho. Einmal hungerten rund vierzig Gefangene aus mehreren Haftanstalten, darunter auch diejenigen der „Bewegung 2. Juni“, gemeinsam, wochenlang. Wer abspringen wollte, wurde von Anwälten unter Druck gesetzt. Erstes Ziel der Hungerstreiks: Verhandlungsunfähigkeit. Die Entschlossenheit duldete keinen Zweifel. In einem Zirkular hatte Baader angekündigt: „Es werden Typen dabei kaputtgehen.“
Der Erste, der starb, war Holger Meins. Im November 1974. Falls er im Hungerstreik zu Tode komme, so hatte er vorausgesagt, „war’s Mord“. Das erste Opfer im Knast verhalf der RAF zu einer öffentlichen Präsenz wie noch nie. An Meins’ Grab erhob auch Exstudentenführer Rudi Dutschke die Faust und rief: „Holger, der Kampf geht weiter!“ Niemand hätte damals an ein tödliches Kalkül seitens der RAF geglaubt.
Das änderte sich erst über ein Jahrzehnt später, als Terroraussteiger Peter-Jürgen Boock Einblick in Strategie und Taktik der gefangenen Kämpfer gab. RAF-Chronist Stefan Aust schrieb: „Es wurde eine Reihenfolge festgelegt, wessen Leben als erstes, als zweites und als drittes aufs Spiel gesetzt werden sollte. Das war ohne weiteres steuerbar, denn jene, die noch nicht sofort dran waren mit dem Sterben, konnten heimlich essen. Damit war auch klar, dass die ‚Leader‘ überleben mussten. Lediglich Jan-Carl Raspe hielt sich konsequent an den Hungerstreik … Andreas Baader, Gudrun Ensslin und auch Ulrike Meinhof aßen heimlich – in vorher abgemachter Reihenfolge.“
Nach dem Tod von Meins wurden Häftlinge im Hungerstreik zwangsweise ernährt. Man schnallte sie auf eine Liege und leitete ihnen durch einen Schlauch flüssige Nahrung in den Magen. Das Einführen des Kunststoffschlauchs war schmerzhaft. Als in Stammheim wieder einmal ein Hungerstreik geplant war, erbat sich Baader ein paar solcher Schläuche vom Anstaltsarzt, um die Selbsteinführung trainieren zu können, die, so meinte er, nicht so unangenehm sei wie die durch fremde Hand. Er bekam die Schläuche. Später tauchten sie als Bestandteile von Raspes Schnapsdestille wieder auf.
Doch nicht alle ließen sich damals durch die RAF den Kopf benebeln. So erhielten Baader & Co. eines Tages Kassiberpost von der Roten Hilfe, einer Organisation, deren Vorläufer bereits in den Zwanzigerjahren zur Unterstützung von Kommunisten in Haft gegründet worden war und offenbar nach wie vor von einem proletarischen Ehrgefühl geleitet wurde. Sie kannte die wahren Haftbedingungen der RAF, sei es von Besuchen oder von Gesprächen mit Familienangehörigen und Verteidigern; jetzt schrieb sie: „Der Hungerstreik lügt, wenn er Gleichbehandlung der politischen Gefangenen fordert. In Wirklichkeit ist er ein Hungerstreik zur Durchsetzung von Privilegien. Der Hungerstreik lügt, wenn er von Folter spricht.“
Tatsächlich brachten die Hungerstreiks den RAF-Gefangenen in Stammheim wieder mehrere knastuntypische Vergünstigungen ein. So forderten die Mediziner Sonderverpflegung für die vom Hungern geschädigten Körper. Bubeck kann belegen, dass es lediglich um bessere Haftbedingungen ging, und breitet auf seinem Tisch „Einzelaufstellungen“ aus, die der Vollzugsdienst auf ärztliche Anordnung damals für jeden der vier Häftlinge anlegen musste. Demnach erhielt Baader zusätzlich zur normalen Kost täglich vierhundert Gramm rohes Fleisch, das er in der „Fresszelle“ (RAF-Jargon) auf einer Kochplatte selbst zubereiten konnte, außerdem einen halben Liter Milch und einen Liter Mineralwasser sowie wöchentlich ein Viertelpfund Butter.
Bei allen vieren sieht die Liste ähnlich aus – hier noch ein wenig Jogurt, da noch ein bisschen Weißbrot –, keiner aber erhielt mehr Fleisch als Baader, was die Gruppe ohne Murren hinnahm. Diese Portionierung entsprach genau den Machtverhältnissen, die in der Gruppe galten. Baader war unter den Privilegierten der Bestgestellte. Das tägliche Mittagessen, noch ein Beispiel hierfür, wurde von Bubecks Kollegen auf einem Rollwagen in den Korridor gefahren und abgestellt. „Doch keiner der Gefangenen nahm sich seinen Teil, bevor Baader zugegriffen hatte. Der Leitwolf war zuerst dran und holte sich immer das größte Stück.“
Nicht anders war es bei der Verteilung der Lasten. Bubeck zeigt von ihm aufgenommene Fotos, die die Häftlinge auf dem Weg zum Gericht zeigen: Drei von ihnen sind mit Akten dick bepackt und nur einer, mit Sonnenbrille, hat nicht mehr als einen dünnen Schnellhefter zu tragen. Auch das Recht der Gefangenen, zusätzlich Obst zu bestellen, wurde vom Arzt mit ihrem Gesundheitszustand begründet. Bubeck hatte ihre Wünsche telefonisch an eine Stuttgarter Feinkosthandlung weiterzugeben, die täglich per Kleinbus lieferte.
Die Vollzugsbeamten reichten die Kostbarkeiten – „Erdbeeren zur Weihnachtszeit“ – immer nur verhüllt in den siebten Stock weiter, weil sie sich vor den anderen Insassen schämten. Dort kamen sie in die „Fresszelle“, die neben der Bücherzelle, der Aktenzelle sowie dem Kraftraum mit dem Hometrainer und dem Gymnastikband lag.
Baader empfing außerdem einen Masseur, der ihn für eine bestimmte Zeit zweimal wöchentlich wegen Rückenschmerzen durchwalkte. Auch ein Rudergerät wurde angeschafft. Es sollte im Dachhof aufgestellt werden. Die Gefangenen erwarteten, dass der Vollzug es für sie hinauftrage. Doch die Beamten weigerten sich stur – worauf das Gericht ihnen Recht gab. „Unser einziger Sieg in all den Jahren“, sagt Bubeck.
Den größten Triumph aber verbuchte die RAF nach dem Besuch von Jean-Paul Sartre bei Andreas Baader in Stammheim. Das war am 4. Dezember 1974, dem 94. Tag eines Hungerstreiks. Anschließend gab der französische Philosoph eine Pressekonferenz. Er sagte, der Häftling habe ausgesehen wie ein Gefolterter. Er lebe allein in einer kahlen weißen Zelle, in der nichts zu hören sei außer den Schritten des Aufsehers, der ihm das Essen bringe. Baader habe gesagt, in den Zellen der anderen RAF-Gefangenen brenne das Licht 24 Stunden am Tag, allein bei ihm werde es um elf Uhr abends gelöscht.
Sartre schloss, solche Haftbedingungen hätten die psychische Vernichtung des Gefangenen zum Ziel. Bubeck staunte, als er in den Nachrichten davon hörte; üblicherweise nahm er alles, was zum Stammheimkomplex im Fernsehen kam, im Spiegel und in den Stuttgarter Nachrichten stand, aufmerksam wahr. Er war bei Sartres Besuch als Vertreter der Anstalt zugegen gewesen und hatte einen hochnervösen Baader fast die ganze Zeit nur über Politik und Strategie der RAF reden hören und „keine zwei Sätze über die Haftbedingungen, mit denen nun die Pressekonferenz fast ausschließlich bestritten wurde“.
Niemand hatte Sartre gesagt, dass er Baader nicht in seiner Zelle, sondern im schmucklosen Besucherteil des siebten Stocks getroffen hatte. „Baaders Zelle sah anders aus. In ihr hingen ein Che-Guevara-Plakat und vielfarbige Landkarten an den Wänden.“ Und die Schallisolierung, die Dauerbeleuchtung? „Lauter Lügen, weiter nichts.“
Selbst über den Nachzug bestimmten sie frei, wenn auch nur mit Hilfe von Drohungen. Als Ulrike Meinhof sich im Mai 1976 erhängt hatte, fuhr Bubeck mehrmals in den siebten Stock hinauf, um dort Vorschläge zu unterbreiten, welche RAF-Frau das Trio ergänzen könnte. Nicht bloß eine wurde von Gudrun Ensslin abgelehnt: „Wenn die kommt, heißt das Hungerstreik!“ Erst Irmgard Möller war ihr genehm.
Die so genannte vierte Gewalt, die Presse, überhaupt die Medien, ist das einzige Thema, über das Bubeck nur mit kaum verhohlenem Ärger spricht: Natürlich versuchten die Journalisten ständig, an Stammheimer Interna heranzukommen. Doch was sie interessierte, war nicht die Wahrheit, sondern der Skandal. Links, im Stern oder in der Frankfurter Rundschau, wollte man hören, wie schlecht es den Gefangenen gehe; rechts, in Welt oder Bild, mit welchen Annehmlichkeiten sie lebten.
So hatte die RAF allenthalben ihr Ziel erreicht: Ihre Haftbedingungen waren im Nebel geblieben und dennoch zum Politikum geworden. Dabei waren im Kampf um Neuigkeiten manche Journalisten keinesfalls zimperlich. Während Bubeck in Stammheim Dienst tat, klingelten sie daheim bei seiner Frau und stellten den Fuß in die Tür – immer auf der Suche nach privaten Details, mit denen sich nachher vielleicht geheime Informationen aus dem Terroristentrakt erpressen ließen. Auch Drohung und Bestechung – alles wurde versucht.
Immer wieder mussten Bubeck und seine Kollegen im Vollzug telefonische Dauerbelagerungen durchstehen. „Ein Journalist rief fünf-, sechsmal hintereinander beim Anstaltsleiter an und fragte immer wieder: ‚Stimmt es, dass Baader und Ensslin Sekt und Kaviar bekommen?‘ “ Wahrheitsgemäß erhielt er jedes Mal zur Antwort: Nein. „Anderntags stand trotzdem im Blatt: ‚Sekt und Kaviar für Baader und Ensslin!‘ “
Auch „die Politik“, meint Bubeck, habe sich nicht viel besser angestellt. Die baden-württembergische Landesregierung – trat sie den Isolationsvorwürfen energisch entgegen? „Nein.“ Und warum? „Weil sie keinen geringen Vorteil davon hatte, wenn die Mehrheit des Wahlvolks in dem Glauben blieb: Die Terroristen von Stammheim werden hart, aber gerecht behandelt. Denen geht es schlecht, aber denen kann es auch gar nicht schlecht genug gehen.“ In Kauf genommen habe man dafür, dass eine wenn auch winzige Minderheit das Wort von der „Isolationsfolter“ für Wahrheit hielt, sich deswegen unaufhaltsam radikalisierte und schon bald Baaders trauriges Erbe antrat.
Was Bubeck nicht ausspricht, aber möglicherweise denkt: Lieber eine Minderheit verdummen als eine Mehrheit enttäuschen! So kam es – von beiden Seiten vermutlich ungewollt – zu einem höchst seltsamen Doppelpassspiel zwischen Staat und RAF. Stattdessen sagt der ehemalige Vollzugsbeamte: „Ich wäre manchmal gern zu den ‚Antifolterdemos‘ gelaufen, um den jungen Leuten dort die Wahrheit zu erzählen.“
Das hätte er auch tun können, denn ein staatliches Schweigegebot gab es für Bubeck nicht. Mehr als eine Verstimmung zwischen ihm und seinem Dienstherrn hätte er nicht riskiert. Aber am Ende traute er sich doch nicht. Wer hätte ihm schon geglaubt?
Andererseits wäre es vor allem die Aufgabe des Staats gewesen, die wahren Haftbedingungen wieder und wieder offen zu legen. Da der Staat diese Aufgabe aber nicht erfüllte, kann Bubeck heute nur den Schluss ziehen: „Die Politik hat uns, den Vollzug, damals im Stich gelassen.“ Der Staat, der den Stammheimer RAF-Häftlingen der ersten Generation über Jahre größte Vergünstigungen eingeräumt hatte, nahm am 5. September 1977 sämtliche dieser Privilegien wieder zurück. Das war der Tag, an dem Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer von Terroristen der nächsten RAF-Generation – nicht wenige kamen aus den Antifolterkomitees – entführt wurde, weil mit seinem Leben als Unterpfand erreicht werden sollte, was in der Sprache des Andreas Baader die „Big Raushole“ genannt wurde: die Gefangenenbefreiung. Durch einen gerichtlichen Federstrich verlor die RAF ihre Außenbeziehung durch zahlreiche Medien sowie ihre Innenbeziehung durch den großzügigen, achtstündigen Umschluss auf einen Schlag. Keiner der Gefangenen durfte fortan Besuch empfangen oder seinen Anwalt sprechen. Seinen Hof- oder Duschgang musste jeder allein antreten. Strenge Einzelhaft wurde angeordnet. Bubeck bringt all diese staatlichen Aktionen auf den Nenner „Aktionismus“. Er sagt: „Jeder, der ein Gefängnis kannte, wusste: So eine ‚Kontaktsperre‘ lässt sich nur nach außen, nicht nach innen durchsetzen.“
Er behielt Recht. Schon bald fingen die Gefangenen nachts damit an, Rufkontakt durch die Luftschlitze in den Zellentüren aufzunehmen. Stundenlang unterhielten sie sich miteinander über den Gang hinweg, was nicht ganz mühelos war. Der Dienst habende Beamte musste sie ermahnen, ihre Gespräche einzustellen. Falls sie trotzdem weiterredeten, so hatte Bubeck ihn angewiesen, solle er ein schriftliches Protokoll der Gespräche anfertigen. Mehr wollte der stellvertretende Vollzugsdienstleiter nicht unternehmen. Auch nicht, wenn die Gefangenen in den Zellen unter dem Terroristentrakt ihr Transistorradio auf das Fenstersims stellten und so laut drehten, dass die im Stock darüber Einsitzenden mithören konnten. „Wir wollten und konnten sie doch nicht einmauern“, sagt Bubeck. „Ein Fenster oder die Luftschlitze in den Türen müssen jederzeit zu öffnen sein, schon wegen der Sauerstoffzufuhr.“ Doch das Landesjustizministerium verlangte von der Anstalt, dass sie die „Kontaktsperre“ voll und ganz durchsetzte. Also klebten Bubeck und sein Team Schaumstoff auf Holzplatten, die nachts an die Zellentüren gelehnt wurden, um die Stimmen zu dämpfen. Aber auch das half nur wenig, und manchmal stürzten die Platten um „und weckten den halben Bau“.
Bubeck kam zu dem Schluss, dass die „Kontaktsperre“ nur ein Zeichen von Hektik und Unvernunft sei. Was nützte es, den Gefangenen ihre Zeitungen vorzuenthalten oder ihnen den Kontakt untereinander zu erschweren? Denn letztlich fanden sie immer noch die Möglichkeit, sich auf den – freilich längst geplanten – Schritt zu verständigen, der zu unternehmen war, wenn die Freipressung vereitelt würde: einen Gruppenselbstmord, der wie Staatsmord aussehen sollte. Zu diesem selbstzerstörerischen Mittel griffen die RAF-Gefangenen in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977, nachdem „Big Raushole“ so blutig wie kläglich gescheitert war.
In der Selbstmordnacht lag Bubeck daheim im Bett. Und am anderen Morgen saß er um sieben am Schreibtisch in seinem Büro. Um acht Uhr wollte er, wie immer an diesem Wochentag, in der Strafvollzugsschule nebenan, wo er als Lehrer tätig war, seinen Unterricht beginnen. Kurz bevor er sich auf den Weg dorthin machte, klingelte das Telefon. Am Apparat war der Kollege, der im siebten Stock den gerade zu Ende gehenden Nachtdienst tat. Er meldete, was er beim Aufschluss der ersten Zelle entdeckt hatte: den schwer verwundeten Raspe, der sich, die Waffe noch in der Hand, ein riesiges Loch in den Kopf geschossen hatte (Raspe starb wenig später im Krankenhaus).
Bubeck entsinnt sich genau, dass er in den Hörer rief: „Was? Erschossen??“ Heute sagt er: „Es drang einfach nicht gleich in mein Bewusstsein vor, dass Waffen in den siebten Stock gelangt sein sollten.“ Er rief den Gerichtsvorsitzenden an. Kaum lag der Hörer wieder auf der Gabel, kam aus dem Terroristentrakt der Anruf: Baader auch! Ebenfalls erschossen!! Wieder wählte er die Nummer des OLG-Präsidenten. Dazwischen versuchte er, ein Protokoll der sich überstürzenden Ereignisse anzufertigen. Über Zeitangaben und Stichworte kam er kaum hinaus. Da erreichte ihn der Bericht von Gudrun Ensslins Tod. Sie hatte sich erhängt. Schließlich die Nachricht aus der vierten Zelle. Irmgard Möller, als Einzige, hatte überlebt, mit Stichverletzungen in der Brust, die sie sich mit einem Küchenmesser aus der „Fresszelle“ zugefügt hatte. Später wurde Bubeck oft gefragt, ob er sich über das Ende der RAF-Gefangenen denn nicht gefreut habe. „Natürlich nicht“, sagte er darauf. Und er wiederholt es auch heute: „Ich weiß nicht mehr, was ich an diesem Morgen alles gedacht und gefühlt habe. Freude war gewiss keine dabei!“
Die Toten brauchten ein Grab. Doch niemand wollte ihnen eines geben. In Stuttgarter Kneipen, bei anonymen Zeitungsanrufen oder Straßengesprächen wurde gefordert, sie irgendwo im Wald zu vergraben oder auf die Müllhalde zu werfen: Das ist die Stunde Antigones, die ihren landesverräterischen Bruder gegen den Willen des Souveräns trotzdem bestattet. Als schwäbische Antigone fand sich damals Stuttgarts Oberbürgermeister Manfred Rommel, Mitglied der CDU. Ihm wurde am 20. Oktober 1977, so erzählt er in seinem Erinnerungsbuch „Trotz allem heiter“, von seiner Verwaltung „vorgetragen, dass die Familie Ensslin die Bestattung der drei Toten in nebeneinander liegenden Gräbern auf dem Dornhaldenfriedhof wünsche“.
Rommel beschloss, diesem Wunsch zu entsprechen. Denn „erstens wollte ich der zahlreichen Anfeindungen ausgesetzten Familie nicht unnötigen Schmerz zufügen, zweitens wollte ich durch eine gewisse Großzügigkeit sichtbar machen, dass mit dem Tod die Feindschaft endet, vor allem aber wollte ich einen kleinlichen Zank über die Frage verhindern, wer in Stuttgart überhaupt Recht auf ein Grab hat und, wenn ja, auf welchem Friedhof.“ Als die Entscheidung bekannt wurde, brandete der Streit noch stärker auf. Stuttgarter Bürger drohten, ihre Toten vom Dornhaldenfriedhof umbetten zu lassen. Auch wurde Rommel mit der Frage bedrängt, ob er selbst dereinst mit toten Terroristen auf ein und demselben Friedhof liegen wolle.
Lächelnd und in der ihm eigenen Seelenruhe erwiderte er, dass es ihm egal sei, mit wem er einmal auf dem demselben Friedhof liegen werde. Der Streit um die Gräber der RAF glitt schließlich ins Paradoxe, ja Makabre hinüber, für das der Ironiker Rommel durchaus ein Organ besitzt. Wie könnte er sonst schreiben: „Eine Dame beschimpfte mich, weil ihre Tante im Unterschied zu den drei Terroristen kein Grabrecht auf dem Dornhaldenfriedhof bekommen hatte: Ich fragte sie, ob ihre Tante Terroristin gewesen sei, was sie verneinte. Ich sagte: ‚Sind Sie froh‘, und sie meinte daraufhin, das sei auch wieder wahr.“
Am 27. Oktober fand die Beerdigung statt. Die Londoner Journalistin Jillian Becker, die mit „Hitlers Kinder“ das beste Buch über die RAF geschrieben hat, war dabei: Sie sah Transparente mit der Aufschrift „Gudrun, Andreas + Jan – gefoltert + ermordet in Stammheim“. Mehrere Hundertschaften Polizei waren aufmarschiert. Vermummte Trauergäste wurden von Polizisten einer Passkontrolle unterzogen. Vereinzelt kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen Trauernden und Polizeibeamten. Jillian Beckers Schluss liest sich so: „Einige posierten mit erhobenem rechtem Arm und riefen: ‚Sieg Heil! Sieg Heil!‘ Sie versuchten, die Polizisten damit zu beleidigen, eben weil diese keine Nazis waren und auch nicht im Dienst eines faschistischen Staates standen.“
Nachsatz: Horst Bubeck reist gerne. Oft war er mit der Reiseorganisation seiner Gewerkschaft unterwegs. Dabei wurde er vom Reiseleiter bisweilen als Justizvollzugsbeamter aus Stammheim vorgestellt. Bis er sich das verbat. Stammheim? So hatten die Berufskollegen in Südamerika und einmal leider auch in einem westlich-demokratischen Land gefragt. Stammheim? Um dann wie unreife Jungs mit ein paar Gesten Erschießungen anzudeuten und Bubeck grinsend auf die Schulter zu klopfen: „Gut gemacht, Kollege!“ Der ehemalige Vollzugsbeamte, der genau weiß, dass in der Nacht von Stammheim keine Morde geschahen, sagt: „Das war mir im tiefsten Innern zuwider!“
KURT OESTERLE, 46, freier Autor unter anderem für das taz.mag, lebt in Tübingen. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Der Fernsehgast oder Wie ich lernte, die Welt zu sehen“ (DVA, Stuttgart 2002, 224 Seiten, 18,90 Euro).
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