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Notizen aus dem KriegEs hilft mir, wütend zu sein

Früher glaubte sie, sie könne ihr Leben gestalten. Aber im Krieg habe man keine Kontrolle mehr über das Leben, schreibt Iryna Kramarenko.

Eine ukrainische Fahne liegt nach einem Raketeneinschlag in den Trümmern Foto: Carol Guzy/zuma/dpa

Anders als viele in der Ukraine glaubten mein Mann und ich dem US-amerikanischen und britischen Geheimdienst. Wir packten ein paar Sachen und verließen die Wohnung, zehn Tage bevor der Krieg begann. Bis heute kenne ich niemanden, der so reagiert hat. Die Leute konnten einfach nicht glauben, dass die Gefahr echt war. Seither ist mein Leben in zwei Teile gerissen. Vor dem Krieg wohnte ich mit Mann und Sohn in Brovary, einer Stadt nahe Kiew. Ich übersetzte Sachbücher vom Englischen ins Ukrainische. Jetzt lebe ich mit meiner Familie im Haus meiner Eltern in Rivne in der West­ukrai­ne. Vor Kurzem habe ich einen Job als Verwalterin in einem Hotel gefunden.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemanden in der Ukraine gibt, der nicht unter diesem Krieg leidet. Auch wenn man in einer relativ sicheren Stadt lebt, heißt das nicht, dass man nicht Menschen verliert, die einem nahestehen. Oder dass man seine Wohnung verliert. Oder dass man selbst stirbt. Man kann im Krieg seine Zukunft nicht gestalten, geschweige denn kontrollieren. Das zermürbt. Und trotzdem halten die Leute es irgendwie aus – auch jetzt, wo schon bald vier Monate Krieg ist.

Für alle waren die ersten Wochen nach dem 24. Februar unerträglich. Dieser Horror überall. Wir konnten nicht schlafen, nicht essen, nicht ruhig handeln. Ich konnte nicht glauben, dass das jetzt unsere Wirklichkeit ist. Dieser Albtraum. Wollte ich schlafen, sah ich die immer neuen Opfer, sah die Toten vor mir. Was passiert, wenn eine Bombe auf das Haus fällt? Werden wir darunter begraben? Werden andere unsere Leichen finden? Wenn ich nachts im Stockdunkeln neben meinem Mann und meinem Sohn lag, fragte ich mich, ob ich ihre Gesichter je wiedersehe.

Um nicht verrückt zu werden, um zu funktionieren, für das Kind, für die, die man liebt, entwickelt man Überlebensstrategien. Mir hilft, dass ich wütend auf die Russen bin, die mein glückliches Leben zerstörten. Wenn ich während eines Bombenalarms angstgeschüttelt zum Schutzraum renne, an einer Hand meinen Sohn, in der anderen das Telefon, mit dem ich leuchte – die Straßen sind dunkel –, kann ich nur denken: Wir werden es schaffen. Wir überleben. Ich lebe noch, obwohl die Russen mich töten wollen. Genau, wie die Deutschen meine Großeltern im Zweiten Weltkrieg töten wollten. Wenn meine Großmütter da durchkamen, komme ich auch durch.

Jede Woche versuche ich neu, mich an diese Wirklichkeit voller Abscheulichkeiten, die jetzt mein Leben ist, zu gewöhnen. Ich habe gemerkt, dass ich besser atmen kann, wenn ich nicht ständig Nachrichten höre. Ich versuche, mich zu beschäftigen. Zu tun, was ich kann. Und zu kontrollieren, was ich kann. Auch wenn das bedeutet, dass ich manchmal nur meinen Atem kontrolliere oder meine Lippen, um meinem Sohn zu sagen, dass alles in Ordnung ist, dass alles gut wird.

2. April

Manchmal schaue ich mir Filme von ausländischen Bloggern an. Dann sehe ich, dass sie in Frieden leben, und ich denke, auch bei uns wird der Krieg nicht ewig dauern. Aber als ich heute ein holländisches Model über veganen Lippenbalsam, produziert ohne Tierquälerei, sprechen hörte, fragte ich mich, ob sie weiß, wie viele Menschen nur 2.000 Kilometer von ihr entfernt täglich gequält werden oder sterben. Interessiert sie unser Schicksal? Interessiert es sie, was für eine Riesenumweltverschmutzung in Europa gerade passiert – all diese brennenden Panzer, Flugzeuge, Öldepots. Weiß sie um die Bodenvergiftung mit Ammonium und anderen Chemikalien durch den Krieg? Warum schweigt sie zum Krieg in Europa? Geht es sie nichts an? Ist es so, wie man so schön sagt: „Das Einzige, was für den Triumph des Bösen notwendig ist, ist, dass gute Menschen nichts tun.“

taz am wochenende

Die Arbeit in Textilfabriken in Bangladesch und Pakistan kann lebensgefährlich sein. Der Chef des deutschen Billig-Textilunternehmens KiK verspricht, das zu ändern. Unser Reporter hat ihn begleitet – wie die Reise lief, lesen Sie in der taz am wochenende vom 18./19. Juni. Außerdem: Was der Klimawandel mit den Binnengewässern macht. Und: Ein Hausbesuch bei einer Töpferin in 4. Generation. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

10. April

Wir wohnen zwei Nächte bei meiner Tante in einem Dorf bei Rivne. Mein Sohn wollte dorthin, weil ihn die Sirenenalarme nachts fertigmachen. Auch hier ist es nicht sicher, aber wenigstens ohne Sirenengeheul. Mein Mann und mein Bruder sind in der Stadt geblieben; sie machen Freiwilligenarbeit. Sie helfen beim Auspacken der Lastwagen mit Hilfsgütern. Sie kommen müde nach Hause, aber glücklich, etwas tun zu können. Auch meine Tante macht Freiwilligenarbeit. Sie und andere sammeln Kleidung und Lebensmittel im Dorfzentrum und bringen sie in die Region Tschernihiw. Als sie das letzte Mal Hilfe schickten, meinte eine ihrer Freundinnen, sie habe im Fernsehen gesehen, wie eine Frau aus Tschernihiw genau das Brot in den Händen hielt, das sie gebacken habe, das mache sie stolz.

Auch ich helfe beim Sortieren der Hilfsgüter und verbreite die Nachrichten in den sozialen Medien auf Englisch. Meine Freunde backen Kekse für die Soldaten, kaufen Munition, Medikamente, sammeln Geld. Wir tun, was wir können. Wir müssen diesen Krieg gewinnen. Es muss der letzte sein.

29. April

Wir fahren zu unserer Wohnung bei Kiew, um Kleidung und andere Dinge zu holen, die wir im Februar nicht eingepackt haben. Nicht die verbrannten Panzer auf den Straßen fallen uns ins Auge, sondern die vielen beschädigten Häuser. Es sieht so aus, als hätten die Russen vor allem auf die schönsten geschossen. Die neuesten, die mit zwei, drei Stockwerken, die frisch gestrichenen. Natürlich sind auch ältere und nicht so schöne Häuser kaputt. Auch Tankstellen und Krankenhäuser. Im Entbindungskrankenhaus in der Nähe unserer Wohnung klafft ein riesiges Loch. Die Russen wollten unsere schwangeren Frauen und Babys töten.

Es ist schwer, nicht zu weinen, als wir unsere Wohnung betreten. Alle meine Pflanzen sind tot, alles ist verstaubt, verwahrlost. Trotzdem bin ich froh, zu Hause zu sein. Wir zahlen Rechnungen dafür, aber niemand kann uns versprechen, dass wir die Wohnung je wiedersehen. Ich hoffe, dass es sie beim nächsten Besuch noch gibt.

7. Mai

Mein erster Tag auf der Arbeit im Hotel. Heute ist es kaum noch möglich, eine zu finden, und viele haben ihre Arbeit verloren. Ich hatte Glück. Fast alle Frauen, die in unserem Hotel arbeiten, sagen, ihre Männer seien arbeitslos oder in Teilzeit. Mein Mann ist auch einer von ihnen. Er arbeitet immer noch für ein Kiewer Unternehmen, im Homeoffice, aber sein Gehalt ist jetzt höchstens ein Drittel von früher. Jeden Tag fragen wir uns, ob er entlassen wird. Hier in der Westukraine hat er bisher nichts gefunden.

12. Mai

Heute ist der 9. Geburtstag meines Sohnes. Ich habe einen Kuchen für ihn und seine Freunde gekauft und bete, dass wir nicht in den Luftschutzkeller rennen müssen. Die Kinder essen schnell, denn ihre Eltern haben ihnen gesagt, sie sollen nicht lange bleiben. Gott sei Dank ist es ruhig.

16. Mai

Wir haben einen neuen Arbeitskollegen. Er ist mit zwei Schwestern und seinem Vater aus Charkiw gekommen. Ihre Wohnung liegt in Saltowka, dem wahrscheinlich am stärksten zerstörten Teil der Stadt. Er redet wenig, aber dann erzählt er doch, wie beängstigend und gefährlich es war, dort drei Wochen lang auszuharren, und wie unglaublich schwer es war, seine Stadt zu verlassen. Am Bahnhof wollte man ihn nicht in den Zug lassen. Kinder, Frauen und ältere Menschen haben Vorrang. Also nahmen sie ein Taxi und fuhren in die andere Regionalstadt, Poltawa. Es kostete einen Monatslohn.

Ich traf heute eine ukrainische Familie, die seit fast zwei Monaten in Österreich lebt. Sie wollen trotz der Gefahr in ihre Heimat nach Gostomel zurück. Sie haben Österreich vor dem Krieg oft besucht, aber das Leben als Tourist unterscheide sich sehr vom Leben als Flüchtling. Sie wurden krank vor Heimweh, erzählt Nadia. Außerdem möchten sie ans Grab eines Verwandten. Sie erzählt von zwei Männern ihrer Familie, die in der Garage waren, als die Russen kamen und zu schießen begannen. Der Jüngere schoss mit seiner Flinte zurück, wurde aber kurz darauf erschossen. Der Ältere entkam durch das Fenster, verlor seine Schuhe und lief barfuß durch den Schnee nach Kiew zu Leuten, die er kannte. Die Leiche des Jüngeren lag Wochen in der Garage, bis sie ihn endlich begraben konnten.

25. Mai

Heute bringt mein Bruder meinen Vater aus der Klinik in Lwiw. Kurz nach Beginn des Kriegs wurde bei ihm Krebs ­diagnostiziert. Ich fürchte, ich finde nicht die richtigen Worte, um zu beschreiben, was wir an diesem Tag fühlten. Seitdem wurde er in verschiedenen Krankenhäusern behandelt, aber wir zögerten, ob er nach Lwiw soll, da die Stadt schon mehrmals bombardiert wurde. Zum Glück kam er wohlbehalten zurück. Gott sei Dank ist mein Vater Optimist. Sein Glaube, dass alles gut werden wird, gibt auch mir Hoffnung.

10. Juni

Ich habe gerade mit meinem Cousin gesprochen, einem Soldaten der ukrai­nischen Streitkräfte. Er ist ein wunderbarer, freundlicher, intelligenter Mann. Ich liebe ihn, und es bricht mir das Herz, wenn ich an die Gefahren denke, die ihm als Soldat drohen. Jedes Mal, wenn ich schlechte Nachrichten von den Schlachtfeldern sehe, fühle ich einen körperlichen Schmerz und kann nicht atmen. Er könnte dort sein.

Aber er tut sein Bestes, um diesen Krieg zu gewinnen. Genau wie alle anderen. Und wir sind stolz auf das, was wir tun, denn wir wissen, dass wir für die Zukunft unserer Kinder und unseres Landes kämpfen.

Slawa Ukraini!

Aus dem Englischen von Waltraud Schwab.

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