Die zerbombte Ruine der Stadtbibliothek in Tschernihiw

Das alte Bibliotheksgebäude der Stadt Tschernihiw – zerstört von russischen Bomben Foto: Vladislav Savenok/ ap

Vom Kriegsalltag in Tschernihiw:Glücksspiel Leben

Die Kinder ahmen eine Sirene nach, die Freundin hat nicht mal die Fenster abgeklebt. Eindrücke aus dem Krieg in der belagerten Stadt Tschernihiw.

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1.4.2022, 12:22  Uhr

Seit zweiundzwanzig Tagen trage ich denselben roten Pullover, den mir eine Freundin aus der Region Iwano-Frankiwsk gegeben hat.

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In der Nacht, die wir nach unserer Flucht aus Tschernihiw in Schaschkiw (südlich von Kiew, Anm. d. Red.) verbracht haben, zogen die Kinder ihre Socken aus, ohne dass sie jemand darum gebeten hatte. Das war am 13. März, gegen 23 Uhr. Zwölf Stunden zuvor hatten wir Tschernihiw endgültig verlassen.

Die Kinder gehören zu meiner Freundin Vita*. Nach all den Wochen, die wir gemeinsam in Tschernihiw verbracht haben, kann ich sie wohl als meine Freundin bezeichnen. Vitas Kinder, zwei kleine Jungs, mögen es nicht, in Socken zu schlafen.

Jede Nacht haben wir Decken auf dem Boden in der Nähe des Kellers ausgebreitet und uns zum Schlafen aneinandergekuschelt, um nicht zu frieren. In der letzten Nacht spendete der Heizkörper schon keine Wärme mehr, da die Heizung mit Wasser arbeitet, welches es seit Tagen nicht mehr gab. Genauso wenig wie Licht und ein funktionierendes Mobilfunknetz. Doch nicht davon wurde mir schwer ums Herz. Was mich wirklich bedrückte: wenn die Katzen nachts den Krug mit unseren Wasservorräten umstießen. Ich wäre fast in Tränen ausgebrochen.

Wenn wir also in einem Knäuel auf dem Boden in den Schlaf dämmerten, wurde den Kindern warm und sie begannen damit, ein Kleidungsstück nach dem anderen loszuwerden.

Vira Kuryko

„Innerhalb von acht Jahren ist dies der zweite Mann in meinem Leben, den ich in den Krieg verabschiede. Mein Vater war der erste“

Jedoch kann jeden Augenblick ein Bomber über dem Haus auftauchen. Schlaftrunkene Kinder müssen dann schnell in den Keller gebracht werden. Falls im Haus ein Feuer ausbricht, müssen wir sie auf die Straße scheuchen.

Und dann tragen sie keine Socken.

Ein fremder Hof

Am 3. März warfen die Russen acht Bomben über einem Wohngebiet im Tschernihiw ab. Mehrere Häuser wurden vollständig zerstört, in zwei Hälften gerissen, ausgebrannt. Den ganzen Tag wurden Menschen aus den Trümmern geborgen. Viele der Getöteten hielten sich außerhalb ihrer Häuser auf. Die Apotheken und Geschäfte hatten gerade ihre Türen geöffnet – und die Menschen reihten sich in die Warteschlange ein.

Bald darauf nahmen die Russen Menschen in Warteschlangen immer häufiger unter Beschuss. Das Geschäft, bei dem ich oft mit meinem Mann vorbeischaute, wenn wir den Hund ausführten, haben sie mit Mehrfachraketenwerfern vom Typ „Grad“ beschossen. Dutzende Menschen, die auf Brot gewartet haben, sind dabei ums Leben gekommen. Am Tag darauf beschossen sie die Warteschlange der Menschen, die Wasser kaufen wollte.

Wir konnten nicht mehr nach Hause fahren. Ein Bombensplitter war ins Gebäude eingeschlagen. Das Hochhaus steht am Rande der Stadt – aus jener Richtung versuchten sie, in die Stadt einzudringen.

Bereits in den ersten Stunden, nachdem wir die Tür hinter unseren Büchern, Pflanzen, Gemälden – unserem gesamten Besitz – abgeschlossen hatten, fanden wir uns damit ab, dass unser Zuhause nicht mehr existieren würde. Das Korallen­halsband, das mir mein Mann am Vortag geschenkt hatte; die Fotoalben unserer Großmütter, die wir digitalisieren wollten; nichts davon nahm ich mit.

Am Tag darauf verabschiedete ich mich in einem fremden Hof von meinem Mann. Auf den Schultern trug er einen Rucksack, darin Essen für den ersten Tag, eine Schüssel und ein Löffel aus Metall, etwas Warmes zum Anziehen. Mit den Fingern schnipsten wir kurz die Zigarettenasche weg. Allmählich verschmolzen die Umrisse meines Mannes mit der morgendlichen Straße. Zuletzt verschwand der rosa Fleck seiner Isomatte, die am Rucksack hing. Innerhalb von acht Jahren ist dies der zweite Mann in meinem Leben, den ich in den Krieg verabschiede. Mein Vater war der erste.

Särge

Die Stadt benötigt Verbandszeug, Treibstoff, Generatoren, OP-Stirnleuchten, Chlor und Zimmerleute, um den städtischen Arbeitern bei der Anfertigung von Särgen zu helfen. Der Stadtfriedhof von Tschernihiw liegt am Stadtrand und steht unter Dauerbeschuss, so kann eine Beerdigung viele weitere nach sich ziehen. Eine Zeit lang haben einige Hundert Menschen im Keller der Friedhofs­kirche Zuflucht gesucht, bis die Kirche schließlich in Flammen aufging. Die Überlebenden wurden mit Bussen vom Friedhof evakuiert.

Eine zerstörte Wohnung in einer Wohnsiedlung in Tschernihiw

Innenansicht einer Wohnung nach dem russischen Beschuss eines Wohngebiets in Tschernihiw Foto: Natalia Dubrovska/efe/epa

Nun werden die Menschen in grobgezimmerten Särgen beerdigt; das Holz für die Bretter kommt aus dem städtischen Waldpark. Von Kiefern und Birken, die vor einem halben Jahrhundert hier gepflanzt wurden. Jahrelang haben die Einwohner von Tschernihiw mit dem Stadtrat um diesen Waldpark gerungen und ihn vor einer Bebauung geschützt. Die Menschen wollten den Park, die Stadt wollte ein Hotel und ein Café. Jetzt heben sie am Stadtrand, neben dem alten Stadtfriedhof, der schon lange nicht mehr genutzt wird, langgezogene Gräben aus.

Wasser

Die Kinder ahmen eine Sirene nach und laden sich gegenseitig in den Keller ein. Dabei verbringen sie sowieso die meiste Zeit dort. Vita und ich bleiben im Haus. Es ist aus Holz. Wir haben beide Angst davor, dass es Feuer fängt und einstürzt. Also beobachten wir den Himmel, damit jemand die Kinder in Sicherheit bringen kann.

Solange es Wasser gab, hat Vita ständig Sachen gewaschen. Solange es hell war, habe ich gesaugt und so den Sand entfernt, den wir tagsüber in unseren Schuhen aus dem Keller mitbrachten. Fast übertönten der Staubsauger und die Waschmaschine die Explosionen, die Einschläge auf den Dächern, selbst die Flugzeuge.

Vira Kuryko

„Als wir noch Wasser hatten, hatte ich Angst, unter die Dusche zu steigen. Ich schämte mich, möglicherweise nackt zu sterben“

Viele in der Stadt haben weder Wasser noch Licht, doch die städtischen Arbeiter beheben unter Beschuss so viele Schäden, wie sie können. Diese Menschen sterben, während sie versuchen, mir zumindest einen Hauch von Normalität zu ermöglichen. Eines Nachts beschossen die Russen ein Pumpwerk. Dabei wurden ein Wachmann, ein Werkarbeiter und mehrere seiner Familienmitglieder getötet.

Man sagt, der Arbeiter hieß Anatoliy, Spitzname Tolik. Er war etwa fünfzig Jahre alt. Einer der Bewohner Tschernihiws, die gerade die Stadt verteidigen, sagte, er kenne ihn seit einigen Tagen. Bei seinem Weg zur Arbeit im städtischen Wasserversorgungsunternehmen kam Anatoliy an dessen Stellung vorbei und erklärte voller Stolz, dass er die Stadt mit Wasser versorge.

Als wir noch Wasser hatten, hatte ich Angst, unter die Dusche zu steigen. Ich schämte mich, möglicherweise nackt zu sterben. Meine Tante, die etwas älter ist als ich, wusch sich, so gut es eben ging, den Kopf. Sie hatte Angst vor Läusen – und davor, mit schmutzigen Haaren vor Gottes Gericht zu treten.

Flugzeuge

Alle haben Angst vor Flugzeugen. Meist kommen sie in der Nacht. In der Nacht zum 5. März rauschte ein russisches Flugzeug über uns hinweg und warf irgendwo in der Nähe eine Bombe ab, kurz darauf schoss eine Feuersäule in den Himmel. Wir haben die Sirenen nicht gehört und dachten zuerst, es wäre einer von unseren Fliegern.

Ein kaputtes Klavier nach russischem in Tschernihiw

Traurige Zeugen des Krieges: Eine Wohnung nach dem russischen Beschuss in Tschernihiw Foto: Natalia Dubrovska/efe/epa

„Nicht unserer! Geh wieder ins Bett!“

Freunde von uns, die zwanzig Kilometer entfernt in einem Dorf leben, beschrieben ein helles Leuchten über Tschernihiw. Die Leute dachten, die Russen hätten die Stadt in Brand gesteckt. Als es ruhiger wurde, gingen wir hinaus auf den Hof. Die Tür zum überdachten Anbau öffneten wir mit zitternder Hand.

Die ganze Nacht über ging ich nach draußen, um nachzusehen, ob das Feuer nicht bereits zu uns vorgedrungen war. Zu diesem Zeitpunkt brannten bereits die Häuser in der Umgebung. Die letzten sechs Sirenen habe ich verschlafen. Am Morgen wurde einer der Flieger abgeschossen, der Pilot gefangen genommen, und der Tag verlief ruhig. Bei seiner Landung auf einem Hof tötete der Pilot einen Einheimischen.

Die Russen versuchen, Tschernihiw einzukreisen, allmählich ist die Stadt von Ruinen um­geben, die sich bis ins Stadtzentrum ausbreiten. Und selbst dort, in den Ruinen, bleiben viele unserer Bekannten. Meist sind es ältere Verwandte, die zum dritten Mal ein Fenster oder ihr Dach flicken.

Man redet darüber, dass man es vorziehen würde, wenn „es“ in der Nacht und ohne Schmerzen passiert. Ich ebenfalls.

Äpfel

Der 6. März war einer der ruhigsten Tage. Wir brachten die Ruhe mit dem kürzlich abgeschossenen Flugzeug in Verbindung. Die Arbeiter der städtischen Betriebe luden Müll auf ihre Fahrzeuge. Ich stieg auf mein Fahrrad und fuhr durch die Stadt in ein benachbartes Viertel zu einer Freundin. Ständig explodierte es irgendwo, doch die Leute schienen es nicht zu hören.

Manche standen Schlange, manche waren – beladen mit Taschen – ebenfalls mit dem Rad unterwegs. Obwohl andere Menschen vor einigen Tagen genau auf diese Weise gestorben waren.

Unter Sirenengeheul kam ich an. Ich trat in die Wohnung. Meine Freundin hat nicht einmal die Fenster abgeklebt. Sie geht immer noch zum Rauchen auf den Balkon. Unser Leben ist zu einem täglichen Glücksspiel geworden.

Meine Freundin überreichte mir sechs Äpfel für die Kinder.

Ich machte mich auf den Weg, nachdem die Sirenen verstummt waren. Zu beiden Seiten der Straße parkten Kleinbusse. Von dort aus begannen zwei Männer damit, Kisten mit Gemüse und Obst herauszutragen. Von überall strömten Menschen herbei, die man eine Minute zuvor noch nicht auf der Straße gesehen hatte.

Erneute Luftschläge

In der Nacht auf den 7. März saßen Vita und ich unter dem überdachten Anbau. Zuerst hörten wir eine Maschinengewehrsalve, dann wurden Geschosse abgefeuert. Aus irgendeinem Grund beschlossen wir, auf den Hof zu gehen, um zu hören, wie nah die Geräusche waren. Dann pfiff etwas in großer Entfernung über unsere Köpfe hinweg, vermutlich eine Mine. Das nächste Geschoss flog direkt über uns und wir spürten die Einschläge hinter dem Haus. Nach einer Minute gingen im Haus die Lichter aus. Nach einer weiteren Minute war der Handyempfang weg. Irgendwas flog über das Haus, und erneut krachte es ganz in der Nähe. Wieder pfiff es, gefolgt von einem Einschlag. Die Haustür stand offen.

Wieder ein Einschlag. Ich wurde zu Boden geschleudert, als hätte mir jemand mit dem Fuß in den Rücken getreten. Ich hörte das Geräusch von zerbrechendem Glas – es hörte sich an, als käme es aus unserem Hof. Ich konnte nur schreien: „Hinlegen!“ Auf Knien krochen wir zum Keller. Drei Stunden wussten wir nichts, wir waren sicher, dass das Geschoss in unseren Hof eingeschlagen war. Von Zeit zu Zeit hob ich die Luke, um zu prüfen, ob unser Haus nicht brennt.

Währenddessen versuchten unsere Männer, uns telefonisch zu erreichen. Davon bekamen wir aber nichts mit. Im Keller ohne Empfang sind wir gegen 1 Uhr nachts sogar eingeschlafen. Ich weiß, dass Bekannte in dieser Nacht vorbeigefahren sind und das Haus in Augenschein genommen haben. Die Schlösser haben sie nicht aufgebrochen, als sie sahen, dass das Haus noch steht. Am nächsten Morgen erfuhren wir, dass es das Haus von Vitas Bruder auf der benachbarten Straße erwischt hatte.

Da beschlossen wir, dass wir wegfahren müssen. Wir wussten nur nicht, wie. In diesen Tagen wurde der sichere Korridor aus Tschernihiw immer enger und lag ständig unter Beschuss. In diesen zwölf Tagen haben wir viele Fehler gemacht. Die richtigen Entscheidungen lagen irgendwo dazwischen.

Die ständigen Luftangriffe und der Artilleriebeschuss wurden um den 9. März herum wieder aufgenommen. Ich finde keine Wörter, um zu beschreiben, wie das klingt, so ein Bomber über dir. Ich kann ihn immer noch spüren als kaltes, konstantes Zittern in meinem Körper. Das schrille Quietschen des Gebäudes, wie es schaukelt, als bestünde es aus Papier und Kleber.

Eine der Bomben fiel zehn Gehminuten von uns entfernt herab und zerstörte das Stadion und das alte Bibliotheksgebäude, einen meiner liebsten Orte. Doch größere Sorge bereiten mir die vielen Händler mit ihren Ständen rund um das Stadion. Sind sie am Leben? Viele Tage später erfuhr ich, dass Pavlo dort gestorben war. Ich kannte ihn vom Laientheater der Universität. Nach Kriegsausbruch ging er zur Territorialverteidigung.

Märchen

Die Kinder stellen viele Fragen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben. Mama, was ist ein „Urheber“, ein „Regisseur“, ein „Fremder“, eine „Ambulanz“? Vita antwortet, während sie in einer Schüssel das Geschirr spült.

Und was ist ein „russisches Volksmärchen?“

Das, was sich da vor unserem Fenster abspielt, antwortet sie leise, mehr an uns denn an die ­Kinder gerichtet.

Tulpen

Zusätzlich zu all den Warteschlangen in der Stadt bildet sich am 8. März auf dem Markt von Tschernihiw eine lange Reihe für Blumen. Die Straßenhändlerinnen und -händler haben die frischen Blumen in schmutzigen Vasen entlang der leeren Bänke aufgestellt, auf denen sie früher Reisig­besen, Gummi-Clogs, Möhren und Wollsocken verkauft haben. Es gibt Rosen und Tulpen. Militärangehörige dürfen die Blumen mitnehmen, ohne dafür anstehen zu müssen.

Ich habe nicht sofort verstanden, was die ganzen Blumen sollen. Das muss am Krieg liegen, dachte ich. Wie auch immer, selbst mit etwas Geld in der Tasche kann man in der Stadt gerade nichts kaufen. Dann lass es eben Blumen sein.

Später wurde mir erklärt, dass die Blumen kostenlos verteilt werden. Nur eine Kiste steht da, die Leute werfen rein, was sie erübrigen können – „Arzneimittel für unsere Leute.“

Erst als auch ich eine Blume bekam und der dritte Soldat auf dem Posten mir gratulierte, begriff ich, dass heute Weltfrauentag ist. Zum Teufel, das liegt gar nicht am Krieg?

Kriegsbrot

Eines Nachmittags besuchte uns Vitas Patenonkel. Er brachte frischgebackenes Brot. Die Kinder brachen die Kruste ab und aßen zufrieden. Wir haben noch genug zu essen und haben auch altes Brot getrocknet, aber dieses frische Brot schmeckte besonders köstlich.

Eine Freundin ging selbst in den Laden, um Brot zu holen. Kriegsbrot – ein Laib pro Person. Einige versuchten, zweimal zur Kasse zu gehen, wurden aber sofort von den Verkäuferinnen bemerkt. Ein Freund, mit dem Vita sich auf die Nahrungs­suche begeben hatte, riet ihr, den Einkaufskorb nahe bei sich zu halten. Denn kaum wendest du dich ab, kann das, was du in einem leeren Supermarkt ­zusammentragen konntest, daraus verschwinden.

Eine andere Freundin fand im Laden in ihrer Nähe lediglich Garnelen. Nachts brieten sie diese. Der Geruch machte die Katze rasend.

Wenn kleine Läden geöffnet haben, dann findet sich dort definitiv etwas zu kaufen. Am Donnerstag etwa gab es unweit von uns Sprotten. Ein Päckchen pro Person, doch gegen Abend standen kaum noch Leute in der Schlange, und es war nun möglich, mehrere Päckchen mitzunehmen. Der Fisch wäre ohnehin verdorben. Zwei Mädchen gingen zum Stand und fragten nach Süßigkeiten. Es gab keine.

Sie gingen zu einem geschlossenen Café, in dessen Schaufensterregalen Süßigkeiten auslagen. Ich hatte zwei kleine Bonbons in der Tasche, die gab ich ihnen. Ich bedauerte, dass ich nicht mehr mitgenommen hatte. Dann fiel mir ein, dass ich selbst nur noch diese hatte.

Ich durchkämmte die kleinen Geschäfte nach Zigaretten. Doch wo ich auch hereinschaute, überall zuckten sie mit den Schultern. In der Tat gab es Zigaretten, aber die Kunde machte schnell die Runde und die Leute kaufen schnell alles, was sie kriegen können. Reis, Zucker, Öl – selbst das bekommt man noch, aber Zigaretten, das ist höchster Schwierigkeitsgrad. Selbst gegen frische Sprotten würde niemand ein Päckchen „Pryluky“-Zigaretten tauschen.

Aus einem der Läden nehme ich eine Packung Brot mit und gebe sie einer fremden Frau. Sie weinte so sehr, dass ich ebenfalls anfing zu weinen.

Die Stadt kommuniziert jetzt mithilfe von Warntönen. Ein Einschlag, eine Explosion – und alles beginnt zu schreien. Einmal gehe ich eine der Hauptstraßen entlang und stelle fest, dass meine Wohnung weniger als einen Kilometer entfernt ist. Ich inspiziere einige Häuser und erkenne, dass Vita und ich mitten in einer Seeschlacht leben. Unser Haus ein winziger Käfig, der nach wie vor Glück hat.

Als ich noch einen halben Kilometer vor mir habe, schlägt in einem nahegelegenen Hof eine Granate ein. Ein Mann wirft mich mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Mit Erde im Mund und in den Augen stehe ich auf. Ich fische die letzte Zigarette aus meiner Tasche. Niemand ist verwundet, selbst die Fenster sind nicht aus den Häusern geflogen. Ein Pfeifen ist zu hören, der Beschuss beginnt.

Nachts wieder Flugzeuge. Sie werfen eine Bombe über dem Stadtzentrum ab. Dort, wo Menschen leben, die uns vor drei Tagen gesagt haben, dass sie Angst hätten, Tschernihiw zu verlassen. Außerdem sei es ruhig bei ihnen im Zentrum, haben sie gesagt.

Seit dieser Nacht beschränkt sich der Artilleriebeschuss nicht mehr auf den Stadtrand. Überall schlagen Geschosse ein.

Da beschließen wir, diejenigen aufzusuchen, die aus der Stadt flüchten wollen, sie alle in unser Auto zu quetschen und wegzufahren. Vor uns liegt ein Haufen bereits zerschossener Fahrzeuge. Doch wir gehen das Risiko ein und fahren daran vorbei. Der Weg führt über Felder, kleine Dörfer und unbefestigte Straßen, die das Tauwetter in Schlammpisten verwandelt hat.

Papa

Am letzten Posten hinter Tschernihiw bemerken die Kinder das Militär im Fenster. Sie wissen, dass ihr Vater im Krieg ist. Der ältere Junge beginnt, gegen das Fenster zu klopfen. Ist Papa auch da? Wo ist Papa? Vita sagt: Papa kämpft gegen die „russischen Volksmärchen“.

*Name von der Redaktion geändert

Aus dem Ukrainischen übersetzt von Johann Zajaczkowski.

Vira Kuryko, 25 Jahre alt, arbeitete freiberuflich als Journalistin in Tschernihiw. Sie verließ die Stadt am 13. März 2022 und berichtet heute von Lwiw aus.

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