Notaufnahmen sind am Limit: Keine Rettung in Sicht
In den Vivantes-Notaufnahmen ist die Lage so schlimm wie nie, sagen Beschäftigte – und berichten von fragwürdigen Konzernpraktiken.
„Fast täglich“ müssten sich Notaufnahmen bei der Leitstelle abmelden mit der Folge, dass Rettungswagen mit Notfallpatient:innen abgewiesen werden. Der Versorgungsauftrag könne „nicht immer“ erfüllt werden. Die Wartezeit für Patient:innen betrage aktuell zwischen 6 bis 48 Stunden.
„Eigentlich sollen wir in einer normalen Schicht 13 Pfleger:innen sein, doch wenn wir zu viert sind, ist das schon gut“, berichtet auch Katja Müller, Pflegerin in einer Vivantes-Notaufnahme. „Es haben unglaublich viele Kolleg:innen gekündigt“, sagt sie. Andere seien dauerkrank, weil sie die Arbeit psychisch und physisch nicht mehr leisten könnten.
Dabei hatten die Kolleg:innen letztes Jahr, als die Krankenhausbewegung einen Entlastungsvertrag erstreiken konnte, neue Hoffnungen geschöpft. Doch verbessert habe sich wenig. Zwar lege der Tarifvertrag Mindestbesetzungen fest, doch diese würden nicht eingehalten. Auch die Entlastungspunkte, die Schichten in Unterbesetzung laut Vertrag generieren sollen, würden auf den Arbeitszeitbögen nicht immer auftauchen. „Wem welche Punkte angerechnet werden erscheint völlig willkürlich“, sagt Müller.
DRG-System Dass Vivantes in den Rettungsstellen mit harten Bandagen kämpft, ist kein Zufall. Denn anders als in anderen Klinikbereichen bekommt Vivantes die Personalkosten nicht über die Krankenkassen erstattet. Hier gilt das berüchtigte DRG-System, das nur festgelegte Preise für die Behandlung bestimmter Krankenheiten kennt.
Verluste Wenn Klinikleitungen es schaffen, mehr Patient:innen schneller und mit weniger Personal zu behandeln, machen sie Gewinne – die Logik der Massenproduktion. Rettungsstellen machen wegen mangelnder Planbarkeit aber häufig Verluste. Vivantes liebäugelt wohl auch deshalb mit einem bedarfsorientierten Finanzierungssystem. (tk)
Repression gegen aktive Beschäftigte
Eigentlich heißt Müller anders. Doch unter ihrem echten Namen mit der Presse zu sprechen traut sie sich nicht mehr. Kolleg:innen, die Missstände in Vivantes-Kliniken publik gemacht haben, seien zu Personalgesprächen eingeladen worden, berichtet sie. Der Betriebsrat bestätigt das auf taz-Nachfrage. Auch Ärzt:innen würden wegen ihrer öffentlichen Äußerungen unter Druck gesetzt.
Offiziell sage Vivantes das nicht, doch die Gespräche dienten dem Zweck, Angst vor Abmahnungen oder Kündigungen zu schüren – auch wenn dies arbeitsrechtlich nicht haltbar sei. „Das ist Psychoterror“, sagt Müller.
Auf taz-Nachfrage bestätigt Vivantes-Sprecher Christoph Lang, dass der Konzern Beschäftigte befragt, die „öffentlich oder intern den Verdacht auf Gefährdung des Patientenwohls“ äußern. Grundsätzlich dürften Arbeitnehmer:innen keine „Unternehmensinterna“ an die Öffentlichkeit tragen oder „bewusste Falschaussagen“ über das Unternehmen treffen. Dennoch könnten sich Angestellte von Vivantes „selbstverständlich“ frei äußern. Auch gebe es die Möglichkeit, „sich anonym an einen externen Ombudsmann zu wenden“.
Müller aber sagt, das bringe nichts. „Wir haben die Missstände etliche Male kommuniziert.“ Auch der Betriebsrat schreibt, es lägen „etliche Gefährdungsanzeigen“ von Mitarbeiter:innen vor.
Überforderung von Beschäftigten
Rettungswagen müssten häufig viel zu lange darauf warten, dass Patient:innen von Pfleger:innen angenommen werden, erzählt Müller. Nach ärztlicher Anordnung würden Medikamente viel zu spät verabreicht. „Wenn eine Kollegin einen Patienten beatmet, die andere einen Oberschenkel gipst und dann ein kritischer Fall reinkommt, entstehen Verzögerungen, die Menschenleben gefährden“, sagt sie. Konkreter werden möchte Müller öffentlich nicht – aus Angst, dass die Fälle ihr zugeordnet werden könnten.
Vivantes setze auch Medizinische Fachangestellte (MFAs) in den Notaufnahmen für Aufgaben ein, für die diese gar nicht ausgebildet seien, so Müller weiter. Im Gegensatz zu jener von Pfleger:innen legt die Ausbildung von MFAs einen stärkeren Fokus auf kaufmännische Tätigkeiten, wie zum Beispiel dem Abrechnen von Leistungen.
Im Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) werden MFAs auch schlechter eingruppiert als Pfleger:innen, in den meisten Fällen verdienen sie einige hundert Euro weniger. Gut möglich, dass dies ein Grund ist, warum Vivantes anscheinend verstärkt auf MFAs setzt.
Was bleibt ist Frustration
Auf taz-Nachfrage bestätigt Sprecher Lang, dass MFAs in den Rettungsstellen eingesetzt werden. Deren „wertvollen Beitrag als minderqualifiziert zu degradieren“ gehe jedoch an der Realität vorbei, da MFAs über eine dreijährige Ausbildung verfügen – wie Pfleger:innen auch.
Das diese unterschiedliche Schwerpunkte haben, erwähnt Lang nicht. Auch bleibt unerwähnt, dass schon das Pflegeberufsgesetz vorschreibt, dass einige Tätigkeiten – insbesondere solche, die eigenständige Pflegeentscheidungen beinhalten – nur von Pfleger:innen ausgeführt werden dürfen.
„Natürlich haben sich viele MFAs über die Jahre einiges angeeignet“, sagt Müller. Wenn die Klinikleitung sie aber unter Verweis auf die Personalnot in den Schockraum einteile oder die MFAs Medikamente vergeben müssten, sei das aber gefährlich – gerade bei jungen Kolleg:innen. „Wer die möglichen Nebenwirkungen eines Medikaments nicht kennt, kann auch nicht reagieren, wenn es zum Beispiel zu allergischen Reaktionen kommt“, sagt sie.
Dass die Klinikleitungen keine Einsicht zeigen, frustriert Müller. Sie würden noch nicht einmal versuchen, die Kolleg:innen, die kündigen, zu halten. Auch neue Stellen müssten dringend genehmigt werden. „Wenn das nicht passiert nehme ich meine Sachen und gehe“, sagt sie. „Wie viele Menschen sehen wir denn wegen dem Personalmangel sterben?“ Es gebe nur ein bestimmtes Maß, das jeder Mensch ertragen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!