Nordmazedonien-Doku in Lübeck zu sehen: Ein Krieg kann Häuser bauen

In „Retreat“ zeigt die Hamburgerin Anabela Angelovska, was US-Militäteinsätze, Arbeitsmigration und den Bauboom auf dem Balkan miteinander verbindet.

Unverputztes Gebäude

Mehr Statussymbol als Zuhause: Neubau in Kumanovo Foto: Betty Herzner © Anabela Angelovska

HAMBURG taz | In der Stadt Kumanovo in Nordmazedonien ist ein Wirtschaftswunder ausgebrochen: Die SUV-Dichte ist so hoch wie kaum an einem anderen Ort in Osteuropa – und es herrscht ein geradezu manisch anmutender Bauboom. Vor allem neu gebaute Villen im Stil des sogenannten Turbo-Urbanismus, deren Hauptinspiration amerikanische Seifenopern zu sein scheinen, haben das Stadtbild seit Anfang der 2000er-Jahre radikal verändert. Dabei herrscht in der Region die gleiche Wirtschaftskrise wie überall im restlichen Balkan.

Eine Arbeiterin verdient bei einer Zulieferfirma für Mercedes-Benz nicht mehr als 200 Euro im Monat, doch es ist noch nicht lange her, dass hier Tausende ein Gehalt von 6.000 Euro und mehr bezogen. Woher kam dieser Reichtum? Er war eine Folge des Krieges: Bei ihren militärischen Einsätzen in Afghanistan und dem Irak brauchten die Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika vor Ort eine Infrastruktur – und dazu gehörten Dienstleister*innen, die gut bezahlt wurden. Viele davon wurden in Nordmazedonien rekrutiert und arbeiteten jahrelang in diesen akuten Krisengebieten.

Hoher Preis

Die Hamburger Filmemacherin Anabela Angelovska kennt Kumanovo, ihr Vater stammt von dort. Auf Besuch bei der Familie fiel ihr auf, wie ex­trem sich die Stadt verändert hatte. Sie hat darüber den knapp 30 Minuten langen Dokumentarfilm „Retreat“ gemacht, in dem sie von Architektur und Postkolonialismus erzählt – und dem hohen gesundheitlichen Preis, den die Ar­beits­mi­gran­t*in­nen für diese gut bezahlte Arbeit entrichten müssen: Die Arbeitsbedingungen sind extrem, in den Camps im Kriegsgebiet waren bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge an der Tagesordnung, sodass sie erleben mussten, wie etwa Ar­beits­kol­le­g*in­nen getötet wurden. Bis heute leiden viele von ihnen an posttraumatischen Belastungsstörungen.

Die 64. Nordischen Filmtage finden vom 2. bis 6. November in Lübeck statt. Auf dem Programm stehen 173 Filme in 212 öffentlichen Vorstellungen in Lübeck. Mehr als zwei Drittel davon stehen auch als Stream für das Publikum deutschlandweit zur Verfügung. Eröffnungsfilm ist in diesem Jahr die dänische Dokumentation „Music for Black Pigeons“ von Jørgen Leth und Andreas Koefoed (2. 11., 19.30 Uhr, Kolosseum).

„Retreat“ läuft am Freitag, 4. 11., um 13.15 Uhr in der Stadthalle Lübeck.

Das Programm, Tickets und weitere Infos: https://nordische-filmtage.de

Der Film beginnt mit den neuen Häusern in der Stadt, und auch später zeigt Angelovska mehr Beton als Menschen: Protzig und seelenlos wird da gebaut; diese Häuser sind nicht dazu da, bewohnt zu werden, es sind Statussymbole, die beweisen sollen, dass hier Träume erfüllt wurden.

Aber auch anderes lernen wir: Etwa, dass es in dieser Welt eine gute Geschäftsidee ist, Videobotschaften zu produzieren, in denen Eltern, in Mickymaus-, Batman- oder Ironman-Kostüme verkleidet, ihren Kindern zum Geburtstag gratulieren: Viele Familien lebten hier jahrelang getrennt.

Beinahe wie Kontrapunkte zu dieser kalten, leeren Lebenswelt lässt Angelovska drei Prot­ago­nis­t­*in­nen ihre Geschichten erzählen: Eine Mutter baut Häuser für ihre drei erwachsenen Kinder, die ihr das Geld schicken, aber nur in ritualisierten Telefonanrufen zu erreichen sind. Ihr Familienleben besteht darin, dass sie auf einer Baustelle die kahlen Räume ausfegt.

Dann gibt es den Arzt, der sich darauf spezialisiert hat, die psychischen Krankheiten der Heimgekehrten zu therapieren – vor allem schreibt er aber Anträge auf Schadenersatz und ist sichtlich stolz, dass bisher noch keiner abgelehnt wurde: Gezahlt werden bis zu 200.000 Euro, aber Geld ist hier ja gerade nicht das Problem.

Der letzte Protagonist ist ein Veteran, ein Heimgekehrter, der selbst an PTSD leidet. Auf den ersten Blick scheint er sich ganz besonders schlecht für einen Filmauftritt zu eignen. Aber gerade sein unbewegtes Gesicht und seine monotone Stimme verdeutlichen ja sein Krankheitsbild – sehr viel eindrücklicher als der Inhalt dessen, was er erzählt.

Film mit Leerstellen

Der Film ist voller Leerstellen. Die Ar­beits­mi­gran­t*in­nen selbst sieht man nicht – sie sind ja in der Fremde. Aber es gibt auch darum so wenig Menschen in diesem Film, weil nur wenige zugelassen haben, gefilmt zu werden. Das Thema Kriegsfolgen ist tabu; auch deshalb, weil die Kranken ihr Trauma neu durchleben müssten, würden sie darüber reden.

Nach dem Dreh im Jahr 2019 glaubte Anabela Angelovska eigentlich, sie habe zu wenig Material zusammen. Nach dem Ausbruch von Corona war jedes Nachdrehen dann aber unmöglich. Die Lösung fand sie am Schneidetisch: Die Abwesenheit der Menschen ist ja der entscheidende Punkt, was blieb, waren diese unbewohnten Häuser mit ihrem kalten Luxus. Auch von einer Militärmacht, die in ihren Kriegen die Dienstleistungen von Ar­bei­te­r­*in­nen aus armen Ländern verrichten lässt, erzählt Angelovska indirekt – aber deutlich. Für diese Betroffenen mag der Lohn besonders hoch sein, aber im Grunde ist es dieselbe Geschichte wie von Ar­beits­mi­gran­t*in­nen überall sonst auch.

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