Nobelpreisträgerin Annie Ernaux: Aus der nackten Realität
Die Scham ist der rote Faden in Annie Ernaux’ Werk. Was die gesellschaftliche Tragweite ihrer Schriften ausmacht: ihre soziale Herkunft.
![Annie Ernaux steht im Jahr 2002 zwischen Nadelbäumen - schwarz-weiss Aufnahme Annie Ernaux steht im Jahr 2002 zwischen Nadelbäumen - schwarz-weiss Aufnahme](https://taz.de/picture/5833054/14/31214077-1.jpg)
S ie habe nie in Metaphern oder Allegorien geschrieben, so charakterisiert die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ihre Bücher. Der Literaturnobelpreis geht in diesem Jahr nicht an das Altehrwürdige, Gehobene, Raffinierte. Sondern an das Schäbige, das Eiskalte, das scharf Blutende. Und das ist eine gute Entscheidung. Ernaux ist keine Künstlerin, die auf die Armen und Ungesehenen blickt, sondern eine, die direkt aus dieser Perspektive heraus schreibt. Nichts läge der französischen Schriftstellerin Ernaux ferner als ein Satz, wie er 2020 von Nobelpreisgewinner Peter Handke fiel: „Ich komme von Tolstoi, von Homer, von Cervantes.“ Denn Ernaux kommt aus der Armut, aus der nackten Realität.
Die Scham als roter Faden in Ernaux’ Werk, ihre soziale Herkunft, Tochter aus einer bildungsfernen Arbeiterfamilie, machen die gesellschaftliche Tragweite des Werkes aus.
Ernaux’ Stärke besteht darin, nicht Stärke zu zeigen – sondern Verletzlichkeit. Ob sie über eine erlittene Vergewaltigung, eine illegale (und entsprechend brutale) Abtreibung, über das Aufwachsen in Armut oder über Krankheit und Tod schreibt: Es ist die Scham, die sich durch alles zieht. „Ich wollte immer Bücher schreiben, über die es mir dann unmöglich sein würde zu sprechen. Bücher, die den Blick des anderen unerträglich machen“, schreibt sie in ihrem Roman mit dem – geradezu unvermeidlichen – Titel „Die Scham“. Dabei ist Ernaux niemals exhibitionistisch. Vielmehr ist ihre Introspektion eine konsequente und gnadenlose Auseinandersetzung mit sich selbst. Das Schreiben mache ihr immer Angst, sagte Ernaux einmal. Wer sie liest, weiß, warum.
Der französische Sozialwissenschaftler Didier Eribon landete mit seinem ebenfalls autobiografischen Buch „Rückkehr nach Reims“ 2016 in Deutschland einen Riesenerfolg – denn er traf einen Nerv, indem er ein scheinbares Tabu brach: über die Scham über die soziale Herkunft zu sprechen. Es gab eine, die das schon längst vor ihm tat und die er auch mit viel Anerkennung zitiert. Es ist Annie Ernaux.
Die Schriftstellerin ist aber auch in anderer Hinsicht immer schon eine Vorreiterin gewesen. Eine Feministin, die von illegaler Abtreibung („Das Ereignis“), von sexualisierter Gewalt („Erinnerung eines Mädchens“) erzählt, lange bevor der Feminismus im 21. Jahrhundert neu aufblüht.
Die heute 82-jährige Schriftstellerin ist sich trotz Weltruhms treu geblieben. Immer beteiligt sie sich am aktuellen politischen Geschehen, nimmt Stellung, verteidigt die Mittellosen. 2019 ist Ernaux Mitunterzeichnerin eines offenen Briefes in der französischen Tageszeitung Libération, wo es heißt: „Die Gelbwesten, das sind wir“. So mancher Linksintellektuelle war sich für eine solche Nähe zur Straße zu fein.
Unter anderem „für ihren Mut“ werde der Französin nun der Nobelpreis verliehen, hieß es von der Schwedischen Akademie. In diesem Fall ist das keine Floskel.
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