Niederländer Rutte wird Nato-Chef: „Teflon-Mark“ übernimmt
Nach zehn Jahren an der Spitze der Nato gibt Jens Stoltenberg den Posten an den Niederländer Mark Rutte ab. An der Agenda soll sich wenig ändern.
In einer feierlichen Zeremonie übertrug der Norweger den Staffelstab für den Nato-Chefposten an diesem Dienstag in Brüssel an den Niederländer. Betont harmonisch verlief die Übergabe. Rutte – wie gewohnt – mit einem markanten Lachen. Stoltenberg – ebenso wenig überraschend – betont nüchtern und distanziert.
Die beiden überschütteten sich mit Lobeshymnen: „Mark hat den perfekten Hintergrund, um ein großartiger Generalsekretär zu werden“, bewertete Stoltenberg seinen Nachfolger. Der kann es kaum erwarten, „an die Arbeit zu gehen“ und dankte seinem Vorgänger für dessen ruhige Hand und seinen „großartigen Job“. Der Übergang vom versierten Langzeit-Chef des Militärbündnisses zu seinem Nachfolger soll reibungslos laufen.
Die Prioritätenliste auf der Nato-Agenda hat sich nicht verändert. Rutte übernimmt keinen Scherbenhaufen von Stoltenberg, aber muss viel stärker kompromissbereit sein und mehr denn je auf einen Konsens innerhalb des Bündnisses einwirken. Die Erwartungen an ihn sind hoch. Schließlich katapultierte der Norweger das Militärbündnis aus dem Status des „Hirntods“ – wie der französische Präsident Emmanuel Macron die Nato vor wenigen Jahren bezeichnete. Mit der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 blieb dem Bündnis auch aus Glaubwürdigkeitsgründen keine andere Wahl.
Rutte wird bescheinigt, mit dem nötigen Druck und Ausgeglichenheit unterschiedliche Haltungen innerhalb der Nato einzunorden. Immerhin war er 14 Jahre niederländischer Ministerpräsident und führte vier verschiedene Koalitionsregierungen an. Bei den zänkischen Nato-Partnern Ungarn und Türkei dürfte er trotzdem auf hartnäckigen Widerstand stoßen – insbesondere in Sachen Ukraine-Hilfen.
Rutte ist geprägt von der MH-17-Katastrophe
Rutte wird also Stoltenbergs Linie folgen. Er will die Kooperation mit Staaten des Indo-Pazifiks stärken, auch beim Thema Kampf gegen den Terrorismus sieht er die Nato als wichtigen Akteur. Aber international wird die Gemengelage schwieriger. Unterstützung für die Ukraine dauerhaft zu sichern, hängt vor allem von einem Faktor ab: Wer zieht nach den US-Präsidentschaftswahlen vom November im kommenden Jahr ins Weiße Haus ein?
In der vergangenen Woche warb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in den USA bei Demokraten und Republikanern um konkrete Zusagen. Einerseits um Geld für Waffen, aber auch um die Genehmigung, Langstreckenraketen auf russischem Territorium einsetzen zu dürfen. Das erste Anliegen wurde erfüllt und die USA sagten weitere Hilfe von mehreren Milliarden US-Dollar zu. Beim zweiten Thema kann Selenskyj nicht auf Zusagen hoffen. Zu groß ist nach wie vor die Sorge vor einer weiteren Eskalationsstufe im Krieg mit Moskau.
Rutte ist geprägt von der MH-17-Katastrophe im Sommer 2014. Eine russische Rakete brachte über der Ostukraine ein Passagierflugzeug zum Absturz. 298 Menschen starben, darunter rund 200 Niederländer:innen. Den Einsatz westlicher Waffensysteme auf russischem Territorium sieht er wohl auch deshalb gelassener. Die Niederlande statteten die Ukraine als eine der wenigen Staaten mit F-16-Kampffliegern aus.
Der Krieg in der Ukraine gegen den Aggressor Russland stockt – ein Ende der Angriffe von beiden Seiten ist nicht in Sicht. Erst in der Nacht zu Dienstag kamen mindestens sechs Menschen in der südukrainischen Großstadt Cherson durch russischen Beschuss ums Leben. Hinzu kommt, dass Moskau offenbar seinen Militärhaushalt massiv aufstocken will. Von rund 135 Milliarden Euro ist die Rede, einem Drittel des russischen Staatshaushaltes.
Verhandlungsoptionen werden zwar gefordert und ventiliert. Doch ernstzunehmende Anstrengungen werden derzeit nicht angegangen. Stattdessen Aufrüstung und die nachdrückliche Forderung an die Bündnisstaaten, ihre Waffenhilfen hochzufahren – und vor allem ihre Zusagen, die beim Nato-Jubiläumsgipfel in Washington im Juli gemacht wurden, in die Tat umzusetzen.
Der „Trump-Flüsterer“ kommt
Das Nato-Ziel, 2 Prozent des heimischen Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben, soll die Stärke des Bündnisses insgesamt sichern. Mit einer möglichen US-Administration unter Donald Trump dürften die europäischen Staaten in der Allianz stärker gefordert werden – aber auch unter Kamala Harris als US-Präsidentin dürfte zwar das Bekenntnis zur Nato bleiben, die Finanzfrage aber genauso auf dem Tisch liegen. Rutte gilt als „Trump-Flüsterer“, als einer, der es auch mit dem unberechenbaren Republikaner aufnehmen kann. Dieser nannte Rutte gar „einen Freund“ bei einem Treffen 2019. Ob er sich diese Freundschaft zunutze machen muss, wird sich im November zeigen.
Stoltenberg wollte eigentlich schon früher abtreten. Für den Posten der norwegischen Zentralbank und andere hochrangige Posten war er im Spiel. Die Diskussion um seine Nachfolge wurde begleitet vom Anspruch der osteuropäischen Staaten, bei der Neubesetzung des Nato-Chefpostens Vorrang zu haben. Sie verwiesen auf den Aggressor Putin, der offen Drohgebärden gegen die Ostflanke der Allianz ausspricht. Den Zuschlag erhielt dann aber doch der robuste Rutte, von niederländischen Expert:innen auch Teflon-Mark genannt.
Arbeitslos wird Stoltenberg aber nicht bleiben. Schon im kommenden Jahr soll er neuer Chef der Münchner Sicherheitskonferenz werden – und damit Christoph Heusgen auf diesem Posten ablösen. In diesem Format wird er weiterhin Sparrings-Partner für Rutte bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg