piwik no script img

Neuwahlen in KanadaTrudeau zittert um seinen Posten

Kanadas Premier Justin Trudeau ließ die Wahlen vorverlegen, um mit absoluter Mehrheit weiterregieren zu können. Genau das nehmen ihm viele übel.

Zumindest ein erfolgreicher Wahlkämpfer: Premier Trudeau mit Anhängern in Montreal Foto: Carlos Osorio/reuters

Vancouver taz | Es ist ein regnerischer Herbstabend in einem Autokino in Oakville, einer Vorortgemeinde im Speckgürtel von Toronto. Justin Trudeau ist mit seinem roten Wahlkampfbus vorgefahren zu einer Rallye unter Coronabedingungen: Dutzende Parteianhänger des kanadischen Premierministers sind mit ihren Autos gekommen, blinken mit den Scheinwerfern und hupen, als Trudeau die Bühne vor der Kinoleinwand betritt.

„Lasst uns den Kampf gegen Corona erfolgreich beenden. Lasst uns an einer besseren Zukunft arbeiten, in der niemand zurückgelassen wird“, ruft er und verweist auf seine Erfolge: Dank hoher Impfquote und großzügiger Sozialleistungen sei Kanada besser durch die Krise gekommen als viele andere Länder. 95 Prozent aller Jobs, die wegen Corona gefährdet waren, habe man retten können, sagt er.

Es ist eine Bilanz, von der Trudeau profitieren will. Zwei Jahre vor Ablauf der Legislaturperiode hatte der Premier vorzeitig Neuwahlen ausrufen lassen mit dem Kalkül, die Kanadier würden seinen Krisenkurs belohnen.

Statt wie derzeit als Chef einer Minderheitsregierung, die auf Stimmen aus der Opposition angewiesen ist, möchte er mit absoluter Mehrheit weiterregieren. Doch der Plan könnte nach hinten losgehen. Am Montag wird zwischen Halifax und Vancouver gewählt, und glaubt man Umfragen, muss der einstige politische Shooting-Star im ungünstigsten Fall sogar mit seiner Abwahl rechnen. Die meisten Demoskopen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Trudeaus liberaler Partei und der konservativen Opposition voraus – Ausgang ungewiss.

Erfolgreiche Coronapolitik

Trudeaus größtes Problem: Drei von vier Kanadiern nehmen ihm den Machtpoker übel. Kanada steckt derzeit in der vierten Welle der Pandemie, muss sich mit den Folgen der verheerenden Waldbrände im Westen des Landes befassen und die Niederlage im Afghanistankrieg verdauen, an dem 40.000 kanadische Soldatinnen und Soldaten beteiligt waren. Nach Neuwahlen ist kaum jemand zumute.

Wo immer Trudeau dieser Tage auftritt, muss er sich rechtfertigen. „Kanada steht an einem Wendepunkt“, erklärt er bei seinem Auftritt in Oakville und fügt hinzu: Die Kanadier hätten jetzt ein Recht zu entscheiden, wie das Land aus der Pandemie und wirtschaftlich in die Zukunft geführt werden solle. Es ist ein Argument, das nur wenige Kanadier wirklich überzeugt.

Wie schwierig die Lage ist, zeigt die Tatsache, dass Trudeau überhaupt nach Oakville kommen muss. Denn eigentlich sollte seine liberale Partei den Wahlkreis im Süden von Toronto sicher in der Tasche haben. Immerhin bewirbt sich in Oakville seine für die Beschaffung der Corona-Impfungen zuständige Ministerin um ein Mandat – die dabei nachweislich einen guten Job gemacht hat.

Fast drei Viertel der Kanadier wünschen sich laut jüngsten Umfragen mehr oder weniger einen politischen Wechsel

Tatsächlich wird Trudeaus Regierung in Kanada eine erfolgreiche Coronapolitik nachgesagt. Rund 70 Prozent aller Kanadier sind mittlerweile voll geimpft und im internationalen Vergleich halten sich die Delta-Inzidenzen in weiten Teilen des Landes in Grenzen. Anfang September konnte Trudeau das Land nach über 17 Monaten wieder für internationale Besucher öffnen.

Im Wahlkampf verspricht er mehr: Trudeau befürwortet eine Impfpflicht für den öffentlichen Dienst und will von allen Flug- und Bahnreisenden einen Impfausweis verlangen. Von radikalen Impfgegnern wird er deswegen beschimpft. Die Mehrheit der Kanadier dagegen unterstützt seinen Kurs.

Trudeau – gar nicht mehr so beliebt

Trotzdem muss Trudeau mit Verlusten rechnen. In Kanada werden Wahlen traditionell in den bevölkerungsreichen Vorstädten der Metropolen Toronto, Montréal und Vancouver entschieden. Dort sitzen viele jener liberal-gesinnten Wechselwähler aus der Mittelschicht, die Trudeau bei den letzten Urnengängen 2015 und 2019 zur Macht verhalfen.

Doch dieses Mal dürften viele von ihnen aus Ärger über die Wahl zu Hause bleiben oder zur Opposition abwandern: zu den Konservativen, den Sozialdemokraten, den Separatisten in der Provinz Québec oder den Rechtspopulisten. Fast drei Viertel der Kanadier wünschen sich laut jüngsten Umfragen mehr oder weniger einen politischen Wechsel. Trudeaus persönliche Beliebtheitswerte befinden sich spätestens seit dem Ausrufen der Wahlen im negativen Bereich.

Viele Wähler haben seine Fehltritte nicht vergessen: seinen Urlaubsflug auf die Privatinsel des Aga Khan in der Karibik etwa oder seine Partynächte mit Blackfacing aus Jugendzeiten. Nicht zu vergessen die SNC-Lavalin-Affäre, bei der ihm vorgeworfen wurde, die Unabhängigkeit der Justiz zu gefährden.

Dagegen konnte Oppositionsführer Erin O’Toole von den Konservativen mit einem geschickten Wahlkampf Punkte gutmachen. Der ehemalige Luftwaffenoffizier und gelernte Anwalt sitzt seit 2012 im Parlament und vertritt in gesellschaftlichen Fragen wie Abtreibung oder Homoehe persönlich moderate Positionen. Er hat versprochen, viele Reformen Trudeaus nicht zurückzudrehen.

Hoffen auf den Wahlkampf

Bei den drei Fernsehdebatten der Spitzenkandidaten agierte O’Toole unauffällig und bot Trudeau nur wenige Angriffsflächen. Dabei setzt er andere Prioritäten: O’Toole will den Waffenbesitz liberalisieren, ist gegen verpflichtende Impfpässe und befürwortet einen zurückhaltenden Kurs beim Klimaschutz. Bislang konnte Trudeau von diesem Kontrast allerdings nur wenig profitieren.

Am Ende des Abends verspricht Trudeau seinen Anhängern in Oakville, auf der Zielgeraden noch einmal alles zu versuchen. Ein guter Wahlkämpfer ist er, das hat er bewiesen: Bei der Wahl 2015 hatte er als Senkrechtstarter überraschend Ex- Premierminister Stephen Harper aus dem Amt gejagt. 2019, ebenfalls eine Zitterpartie, konnte er die Wahl trotz schlechter Umfragen auf den letzten Metern noch drehen. Ob es ihm noch einmal gelingt?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!