piwik no script img

Neuwahlen in GroßbritannienEin überfälliger Neuanfang

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Noch vor der Sommerpause wählt Großbritannien ein neues Parlament. Die politischen Weichen neu zu stellen ist gut für das Land.

Rishi Sunak hat aufgeräumt. Die Früchte seiner Arbeit werden andere ernten Foto: HENRY NICHOLLS/via REUTERS

E ndlich. Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak hat Neuwahlen noch vor der Sommerpause auf den Weg gebracht und damit die politischen Weichen neu gestellt. Dass er die Wahlen verlieren wird und die Konservativen nach vierzehn Jahren an der Macht zurück auf die Oppositionsbänke wandern, gilt als sicher, nicht zuletzt in den Reihen der Konservativen selbst. Seit dem Sturz von Boris Johnson vor zwei Jahren dümpeln die Tories in den Umfragen hoffnungslos abgeschlagen hinter Labour, ihre Moral liegt am Boden und viele ihrer bekannten Gesichter schauen sich bereits nach neuen Karrieren jenseits der Politik um.

Es ist nur logisch, dieses Trauerspiel nicht weiter in die Länge zu ziehen, sondern es pünktlich zu den Sommerferien zu beenden. Sunak mag zwar so tun, als kämpfe er für den Wahlsieg, pflichtbewusst bis zuletzt. Aber die kleine Sekunde nach Abschluss seiner verregneten Wahlankündigungsansprache vor 10 Downing Street, als er mit seinem Manuskript durch war und kurz mit einem intensiven, wehmütigen Abschiedsblick in die Kameras schaute, sprach Bände.

Sunak folgt der alten Londoner Spekulantenweisheit „Sell in May and go away“ – der weitsichtige Geschäftsmann macht von Herbst bis Frühjahr profitable Geschäfte und holt sich dann im Mai den Ertrag, um damit den Sommer zu genießen. Der Ertrag in diesem Fall für die Tories ist das Abwerfen einer zunehmend ungemütlichen Last, nämlich des Regierens eines Landes, das sie nicht mehr sehen kann.

Umwälzung wie 1945 scheint möglich

Der Wahltermin 4. Juli und die Aussicht auf einen Labour-Erdrutschsieg erinnert unweigerlich an Großbritanniens letzte Juli-Wahl – am 5. Juli 1945, als noch vor dem endgültigen Ende des Zweiten Weltkrieges (gegen Japan wurde noch gekämpft) der konservative Weltkriegspremier Winston Churchill von den Wählern in die Wüste geschickt wurde. Seine Labour-Koalitionspartner kamen an die Macht mit dem Versprechen, nach dem Sieg gegen Hitler nun in die Zukunft zu blicken und ein neues, gerechteres Land aufzubauen. Damals rutschten die Konservativen von 48 auf 36 Prozent der Stimmen ab und von 386 auf 189 Sitze im 650 Abgeordnete zählenden Unterhaus, Labour stieg von 38 auf 48 Prozent und von 239 auf 393 Sitze hoch.

Die Umfragen 2024 lassen heute eine mindestens genauso große Umwälzung als möglich erscheinen. Sunak nahm den Anklang an 1945 gleich zu Beginn seiner Wahlankündigung auf, mit dem Satz „In den vergangenen fünf Jahren hat sich unser Land durch die größten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg gekämpft“. Und „ich war nie stolzer, Brite zu sein“, fügte er im Zusammenhang mit der Bewältigung der Pandemie hinzu, bei der er als Finanzminister eine entscheidende Rolle spielte.

Hier sprach der Migrantensohn indischer Abstammung, der erste nichtweiße Regierungschef der britischen Geschichte. Und ein gewisser Ingrimm war Rishi Sunak in den letzten Monaten häufig anzusehen, als die Kritik an ihm immer heftiger und grundsätzlicher wurde und seine Beliebtheitsraten immer weiter in den Keller rutschten, obwohl er es gewesen ist, der nach dem Chaos von Boris Johnson und Liz Truss aufgeräumt hat: Der Inder hat seine Schuldigkeit getan, der Inder kann gehen.

Dienst an der Demokratie

Der scheidende Premierminister sieht sich als der Kärrner, der den Karren aus dem Dreck geholt hat – ein Karren, der nicht nur aus Eigenverschulden im Dreck liegt – entgegen den Vorwürfen der Opposition, entgegen der Wahrnehmung in Teilen der europäischen Öffentlichkeit. Die Misere ist auch nicht nur auf den Brexit zurückzuführen, sondern umfasst eben auch die Herausforderungen der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges. Die gröbsten ökonomischen Krisensymptome scheinen überwunden.

Ab Juli dürfte also ein Labour-Premierminister namens Keir Starmer die Früchte von Rishi Sunaks Aufräumarbeit ernten können. Ähnlich wie Labour nach 1945 auf der Grundlage von Churchills Sieg im Krieg den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates für Friedenszeiten angehen konnte, will die Partei 2024 auf der Grundlage von Sunaks Aufräumarbeit den Reformstau in Großbritannien angehen, der sich im Leben der Menschen immer dringlicher bemerkbar macht.

Insofern sind die vorgezogenen Neuwahlen am 4. Juli ein Dienst an der britischen Demokratie. Die Labour-Wahlsieger werden im Sommer Zeit haben, sich zu sortieren, bevor es im Herbst ernst wird. Die Tory-Wahlverlierer können befreit in den Urlaub fahren. Allen voran Rishi Sunak selbst, dem hartnäckig Umzugspläne mit seiner Familie nach Kalifornien nachgesagt werden, um dort in der globalen Tech-Branche eine zweite Karriere anzugehen.

Labour will regieren. Die Tories wollen nicht mehr regieren. Jetzt darf die britische Wählerschaft daraus die Konsequenzen ziehen. Gut so.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Wichtig ist, dass dem Wahlsieg entgegen Starmers fatalem Kurs auch eine soziale Rückbesinnung folgt. Da muss Infrastruktur für die breite Masse erneuert werden (Bahn, NHS, Bildung) und dem Großkapital die Faust gezeigt. Wahlen sollen ja eine Wirkung haben.

  • Keir Starmer dürfte geschichtsbewußt genug sein, um zu wissen, daß der 1945 in die Wüste geschickte Churchill 1951 erneut Premier wurde! Aber wenn Labour es nicht völlig versemmelt, dann winkt mindestens eine Legislaturperiode an der Macht, schätzungsweise. Good luck!

  • Es ist der Sunak-Regierung hoch anzurechnen, dass sie die britische Wirtschaft trotz BREXIT im Vergleich zur deutschen Wirtschaft nach vorne gebracht hat.



    Dies zeigt umso mehr welches Niveau an Versagen bei der Ampelregierung herrscht.

    • @Andere Meinung:

      Am 4. Juli wird die englische Mannschaft ein paar gute Spiele abgeliefert haben, ist aber noch nicht rausgeflogen.



      Die heißen Tage selbst auf der Insel werden jedoch an die immer noch zu lasche Klimapolitik Sunaks mahnen,

    • @Andere Meinung:

      Das glauben Sie. Wobei die britische Regierung früher tatsächlich ehrgeiziger als Union oder FDP den Umbau zu Klimaneutralität angegangen ist. Da hat sogar trotz Lindner sich zum Glück etwas in Deutschland getan. Klimaschutz ist der Prüfstein, schon aus Kostenerwägungen.

      • @Janix:

        Wirtschaftsentwicklung - und damit die Fähigkeit der Gesellschaft den Sozialstaat zu finanzieren ist der Maßstab

  • ""Die gröbsten ökonomischen Krisensymptome scheinen überwunden.""



    ==



    Der Vorsprung von Labour in den Umfragen ist etwas geringer als vor den Wahlen im Jahr 1997. Die Unterstützung für beide Hauptparteien (Tories, Labour) ist im Vergleich zu 1997 gesunken, wobei Reform UK (11,5 %) und die Grüne Partei (6,5 %) zugelegt haben. Der Swing seit der Wahl im Dezember 2019 beträgt gewaltige 16,8 Prozentpunkte; Der bisherige Nachkriegsrekord lag 1997 bei 10 Punkten.

    Wenn Labour im Einklang mit schottischen Umfragen auch Sitze von der SNP erhalten würde, wäre die Mehrheit praktisch identisch mit Tony Blairs Vorsprung von 179 Sitzen im Jahr 1997.

    Aber Umfragen und die Kommunalwahlen belegen, dass der Wechsel nicht einheitlich (nicht linear) ausfallen wird und dass der Zuwachs bei den Sitzen der Labour-Partei sehr viel geringer ausfällt.

    Die höchsten Labour Gewinne sind in den Wahlkreisen zu erwarten, die zwischen 2005 und 2019 stark zugunsten der Konservativen ausfielen - also dort, wo ab 2016 die meisten Brexitwähler ihre Stimmen für die Tories abgaben.

    Wenn die Wahlen am 4. Juli diese Untersuchungsergebnisse bestätigen und Labour seinen gewaltigen Vorsprung behält, wird die Mehrheit der Partei die größte bei allen Wahlen seit dem Erdrutsch der Nationalregierung im Jahr 1931 sein.

    Übersetzung:



    Die jetzigen Meinungsumfragen zeigen, das es danach aussieht das die Brexitpolitik der Konservativen von den Brexitwählern in die Tonne getreten wird genauso wie Johnsons Coronapolitik, der am Anfang der Pandemie die Konsequenzen und die herben Verluste an Menschenleben nicht klar sehen wollte.

    Inwieweit die veränderte Weltlage eine Rolle spielen wird (Ukraine, China, Russland & USA) werden die Wahlen selbst zeigen. Der 4. Juli liegt günstigerweise 4 Monate vor den USA - Wahlen - also noch etwas Zeit um die Reihen fest zu schliessen. -

    Ob Sunak daran gedacht hat?