Neuwahlen auch in Irland: Dürfen sie schon im November?
Irlands Regierungschef Simon Harris will die Parlamentswahl vorziehen lassen. Der Grund ist der rapide Absturz von Sinn Féin wegen einiger Skandale.
Wie Harris am Mittwoch erklärte, will er nach seiner Rückkehr vom Europagipfel in Budapest an diesem Freitag den irischen Staatschef um die Auflösung des Parlaments und Ansetzung von Neuwahlen bitten. Dies habe er mit seinen Koalitionspartnern vereinbart. Am Donnerstag und Freitag soll das Parlament noch den neuen Staatshaushalt verabschieden.
Grund für die Eile ist der rapide Niedergang von Sinn Féin (Wir selbst), dem ehemaligen politischen Flügel der aufgelösten Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Noch Anfang des Jahres lag die Partei bei 36 Prozent – scheinbar uneinholbar vor den beiden konservativen Parteien, die Irlands Politik seit der Staatsgründung vor gut hundert Jahren dominiert haben. Da Sinn Féin in Nordirland stärkste Partei ist und dort die Erste Ministerin stellt, träumten die Anhänger schon von der bevorstehenden Vereinigung Irlands.
Der Traum ist ausgeträumt. Das hat verschiedene Gründe. Zunächst wurde bekannt, dass der Belfaster Ex-Bürgermeister und irische Senator Niall O’Donghaile zurücktreten musste, weil er einem 16-jährigen Parteimitglied „unangemessene Nachrichten“ geschickt hatte. Parteichefin Mary Lou McDonald schob „gesundheitlichen Probleme“ vor, bis die wahren Gründe bekannt wurden.
Tadellose Zeugnisse
Das war lediglich der Beginn eines Sturms, der sich über Sinn Féin zusammenbraute. Der Pressesprecher der Partei, Michael McMonagle, war im Juni vor zwei Jahren wegen pädokrimineller Taten suspendiert worden. Dennoch stellten ihm zwei führende Sinn-Féin-Mitglieder tadellose Zeugnisse für einen Job bei der British Heart Foundation aus.
Die Wohltätigkeitsorganisation fiel aus allen Wolken, als sie durch die Medien von McMonagles Vergangenheit erfuhr. Der hatte sich 14 Straftaten für schuldig bekannt, darunter der Versuch, ein Kind zu sexuellen Handlungen anzustiften. Das Urteil fällt am 8. November. Noch schwerwiegender war, dass McDonald versucht hatte, die Schuld auf die British Heart Foundation abzuwälzen.
Im Juli erhob ein weibliches Sinn-Féin-Mitglied eine partei-interne Klage gegen den Abgeordneten Brian Stanley, den Vorsitzenden des mächtigen Rechnungsprüfungsausschusses, wegen eines Zwischenfalls im Oktober 2023. Einzelheiten wurden nicht veröffentlicht. Die Partei leitete eine Untersuchung ein, worauf Stanley aus der Partei austrat: Die interne Untersuchung sei eine Farce, sagte er, Sinn Féin hätte den Vorfall – den er bestreitet – sofort der Polizei übertragen müssen.
Sinn Féin reagiere auf Kindesmissbrauch in ihren Reihen wie die katholische Hierarchie, schreibt der Kolumnist der Irish Times, Fintan O’Toole: „Der Parteifunktionär ist, wie der Priester, einer von uns und muss daher mit Mitgefühl und Verständnis behandelt werden. Das Opfer ist ein Problem, das mit dem geringstmöglichen Schaden für das Vertrauen der Gläubigen bewältigt werden muss.“
Erheblicher Dämpfer
Es kann immer noch schlimmer kommen, musste Sinn Féin feststellen. Mitte Oktober trat auch die Abgeordnete Patricia Ryan aus der Partei aus, nachdem sie vor einer Veranstaltung in ihrem Wahlkreis ermahnt worden war, der Parteichefin keine „negativen oder unangemessenen“ Fragen zu stellen. Die Fragen sollten vorab in einer Whatsapp-Gruppe eingereicht werden. Elf Mitglieder der Bezirksgruppe verließen daraufhin ebenfalls die Partei.
Schon bei den Kommunal- und Europawahlen Anfang Juni hatte die Partei einen erheblichen Dämpfer erlitten. Dass sie längst nicht mehr bei gut 30 Prozent lag, war der Parteiführung klar, aber der Absturz auf 12 Prozent – weniger als die Hälfte ihres Ergebnisses bei den Parlamentswahlen 2020 – war dann doch ein Schock. Dabei war das Ausmaß der Skandale damals noch gar nicht bekannt.
Es gab dafür auch andere Gründe. Nach den Unruhen in Dublin vorigen November, als Busse und Straßenbahnen in Brand gesteckt und Geschäfte geplündert wurden, forderte McDonald den Rücktritt des Polizeipräsidenten und der Justizministerin. Das war eine gravierende Fehleinschätzung, denn die meisten machten die Randalierer und nicht die Polizei für das Chaos verantwortlich.
Als Verräterin angeprangert
Hinzu kam, dass Sinn Féin eine liberale Linie bei der Einwanderung vertritt, was die Kernwählerschaft aus der Arbeiterklasse zunehmend ablehnt. Die Proteste der Einwanderungsgegner richten sich auch gegen Sinn Féin, McDonald wird als Verräterin angeprangert.
Und ihr droht weitere Unbill: In ihrem Wahlkreis bekommt sie es mit Gerry Hutch zu tun, einem prominenten Gangsterboss mit dem Spitznamen „The Monk“. Gegen den 61-Jährigen, der 30 Vorstrafen hat und dessen Clan sich seit Jahren mörderische Fehden mit dem Kinahan-Clan um die Vorherrschaft auf dem europäischen Drogenmarkt liefert, wird zurzeit in Spanien wegen Geldwäsche ermittelt.
Hutch kann in dem Wahlkreis in der nördlichen Dubliner Innenstadt, wo er aufgewachsen ist, auf Unterstützung zählen. Es reicht zwar nicht, um einen Sitz zu gewinnen, aber er könnte McDonald die Wiederwahl vermasseln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen