Neuköllner Anschlagsserie: Alle Fragen offen
Zwei Hauptverdächtige wurden im Zusammenhang mit der Anschlagsserie in Berlin festgenommen. Einer der beiden bleibt in U-Haft.
T. und P. sind schon lange im Fadenkreuz der Ermittler, die Indizien hatten bislang aber nicht zur Beantragung von Haftbefehlen ausgereicht. Der Anschlagsserie werden seit 2016 über 70 Taten zugeordnet, darunter 14 Brandstiftungen, Sachbeschädigungen, Drohungen und auch der Diebstahl von Stolpersteinen. Zielgruppe der Anschläge sind vor allem Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren.
Kaum ein Ermittlungsvorgang ist durch so viele Hände gegangen und so oft überprüft worden wie der Neukölln-Komplex. Eine eigens beim Staatsschutz eingesetzte Sonderermittlungsgruppe, BAO Fokus genannt, hatte die Akten eineinhalb Jahre auf Schwachstellen untersucht. In dem Abschlussbericht der Fokus, der im September vorgestellt wurde, war von diversen Versäumnissen bei den Ermittlungen die Rede. Zum Beispiel, dass von den Ermittlern vorhandene Informationen nicht vor dem Brandanschlag auf das Auto des Linkenpolitikers Ferat Kocak zusammengeführt worden seien.
Aber einen Durchbruch im Sinne von neuen Erkenntnissen hatte die BAO Fokus nicht geliefert. Auch die beiden unabhängigen Sonderermittler, die der Innensenator vor ein paar Wochen mit der Untersuchung des Neukölln-Komplexes betraut hat, blieben bislang stumm.
Es war die Generalstaatsanwaltschaft, die jetzt für die Wende gesorgt hat. Nach einem Eklat um eine mögliche Befangenheit von zwei mit dem Komplex befassten Ermittlern hatte Generalstaatsanwältin Margarete Koppers den Vorgang im August 2020 an sich gezogen. Die für Terrorismus zuständige Abteilung hatte in den letzten Tagen beim Gericht den Erlass der Haftbefehle beantragt und durchgesetzt. Allein das ist ein gewisser Erfolg.
Grundlegend neu sind die Erkenntnisse indes nicht. Nach Informationen der taz hat die Generalstaatsanwaltschaft ihren Antrag auf Erlass der Haftbefehle gegen T. und P. auf ein Konglomerat von Straftaten gestützt: Nazischmierereien, Sozialhilfebetrug und Coronasubventionsbetrug gehören genauso dazu wie schwere Brandstiftung in zwei Fällen. Letztere stehen bei der Auflistung der Vorwürfe allerdings im Mittelpunkt.
Am 1. Februar 2018 gingen in Neukölln zwei Autos in Flammen auf: Das eine gehörte Kocak, das andere einem Buchhändler. Dem Vernehmen nach ist der Stand bei den Brandstiftungen der: Die Fahnder der Terrorabteilung haben keine direkten Beweise für eine Tatbeteiligung von T. und P. gefunden, aber eine Reihe von Indizien, die für eine Täterschaft sprächen. Die Frage ist, ob das für eine Anklageerhebung und eine Verurteilung reicht.
Die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner bezeichnete die Festnahme am Mittwoch als „Genugtuung“. Anders Ferat Kocak. Auf Twitter schrieb er: „Während sich alle freuen, dass die Täter in Haft sind, habe ich Angst. Angst, dass sie wieder freikommen. Angst, dass es zu einem Racheakt kommt.“ Wenn es Beweise zur Festnahme gab, warum hat das so lange gedauert, fragte Kocak. Seit 11 Jahren terrorisierten diese Neonazis nun schon die Neuköllner.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“