Neues aus dem Berliner „Problembezirk“: Neuköllnploitation
Bürgermeister Buschkowsky hat ein Buch über Neukölln geschrieben. Doch wer den Stadtteil verstehen will, sollte lieber zu einer anderen Lektüre greifen.
Wenn Heinz Buschkowsky morgens aus seinem Rathausfenster schaut, kann es passieren, dass er zwei vollverschleierte Frauen erblickt, die ihre Kinderwagen schieben. Im Vorwort zu seinem neuen Buch „Die andere Gesellschaft“ beschreibt der Bürgermeister des Berliner Problembezirks Neukölln diese Szene als „ausgesprochen symbolträchtig“ – als Zeichen dafür, „dass in den letzten 40 Jahren die übliche Durchmischung der Bevölkerung etwas aus dem Ruder gelaufen“ sei. Denn Buschkowsky mag keine Ganzkörperschleier, sie treiben seinen Blutdruck nach oben. Die Szene ist aber auch bezeichnend dafür, wie Buschkowsky die Welt betrachtet: mit einem Tunnelblick aus dem Rathausfenster.
In seinem neuen Buch strickt der „Kult-Bürgermeister“ (Bild) wieder fleißig mit am medialen Mythos von Berlin-Neukölln als Vorhölle der Republik. Dieses Image hat der Bezirk ursprünglich der schlagzeilenträchtigen Skandalisierung seiner realen Probleme zu verdanken. Doch daraus ist längst ein eigenes publizistisches Genre entstanden, das für vermeintlich authentischen Ghettogrusel steht: Neuköllnploitation. Bücher wie das pseudobiografische Porträt „Arabboy“ von der in Neukölln geborenen Autorin Güner Balci, „Das Ende der Geduld“ der verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig und Kinofilme wie Detlef Bucks „Knallhart“ haben Neukölln zu einer Marke gemacht, die Auflage, Quote und Profit verspricht.
Der Neukölln-Mythos war zwar immer nur die halbe Wahrheit, denn der Süden des Bezirks ist eine langweilige Reihenhaus-Kleinbürgeridylle, die allenfalls durch ein paar urdeutsche Rechtsradikale gestört wird. Aber die Geschichten aus Nord-Neukölln, die von arabischen Mafiaclans und von Blut, Ehre und Gewalt handeln, verkaufen sich einfach besser. Das weiß auch Buschkowsky, der selbst im Süden wohnt.
Doch wer sich von ihm echte Einblicke in die Abgründe seines Bezirks erhofft, der wird enttäuscht. Liest man sein neues Buch „Die andere Gesellschaft“, merkt man eher, wie wenig er eigentlich über sein Viertel weiß, das er seit immerhin 14 Jahren regiert.
Heinz Buschkowsky: „Die andere Gesellschaft“. Ullstein Verlag, Berlin 2014. 288 Seiten, 19,99 Euro.
Christian Stahl: „In den Gangs von Neukölln“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2014. 256 Seiten, 17,99 Euro.
Wie der gute König aus dem Märchen, der sich unters Volk mischt, hat sich Buschkowsky für sein Buch aufgemacht, seinen Bezirk zu erkunden. Er hat Sozialarbeiter und Unternehmer mit Zuwanderungsgeschichte in sein Büro geladen, die wie er finden, dass Hartz IV und Kindergeld manche Einwandererfamilien zu Bequemlichkeit verführe. Er hat Islamkritiker aufgesucht, die ihn in seinen Vorurteilen gegen Muslime bekräftigen. Er traf Mädchen, die bekennen, zu Hause Gewalt erfahren zu haben und von ihren Brüdern beaufsichtigt zu werden, und er zitiert aus Bewerbungsschreiben, die zeigen sollen, dass junge Leute aus seinem Bezirk trotz Schulabschluss kaum die deutsche Sprache beherrschen. So weit, so schlecht.
Islam als Integrationshindernis
Doch in seiner Analyse der Ursachen für die Misere verheddert sich Buschkowsky in vielen Widersprüchen. Er zitiert Studien, wonach 20 Prozent aller türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen in Deutschland schon mal häusliche Gewalt erfahren haben – was im Umkehrschluss bedeutet, dass 80 Prozent von ihnen ohne Gewalt aufgewachsen sein müssen – und andere, die besagen, dass „nur ein Drittel der Muslime streng religiös“ seien.
Trotzdem suggeriert er hartnäckig einen Zusammenhang zwischen Religiosität, Delinquenz und Gewalt, ohne ihn belegen zu können. Seitenweise lamentiert er darüber, der Islam sei wohl das größte Integrationshindernis. Aber als er sich dann mit zwei jungen Imamen aus seinem Bezirk unterhält, stellt er verblüfft fest, dass sie in vielen Punkten gar nicht so anders denken wie er selbst: „Das hätte fast alles auch von mir sein können.“
Buschkowsky fährt fort, indem er Einwanderern vorwirft, sie würden ständig zwischen „wir“ und „den Deutschen“ trennen und sich dadurch abgrenzen – verhält sich aber selbst genauso. Er findet, Muslime würden es sich in der Opferrolle bequem machen, und hält jede Klage über Diskriminierung für kolossal übertrieben. Dafür stilisiert er sich selbst zum Opfer eines „vom Linkskartell definierten Mainstream-Multikulturalismus“, das ihn mit Denk- und Sprachregelungen zu gängeln versuche.
Man liest von Scharia-Gerichten im Wohnzimmer, Autorasern, die auf dicke Hose machen, hier eine Anekdote und da noch eine. Hängen bleibt am Ende nur: Es ist alles ganz schön schlimm. Wohl kein Bürgermeister in Deutschland hadert so mit dem Quartier, das er regiert. Aber genau diese Dauerklage hat Buschkowsky bundesweit populär gemacht, denn damit spricht er offenbar vielen aus dem Herzen, denen die ganze Richtung nicht passt, die die deutsche Gesellschaft nimmt.
Nicht noch ein Sozialporno
Wer allerdings wirklich wissen will, was die besondere Problematik Neuköllns ausmacht, sollte besser das Buch „In den Gangs von Neukölln“ von Christians Stahl lesen. Der Titel lässt einen weiteren Neukölln-Sozialporno à la „Arabboy“ vermuten, ist aber das Gegenteil: ein feinfühliges und genaues Porträt eines jungen Serienstraftäters, das Klischees vermeidet und nach Antworten sucht.
Vor neun Jahren zog der Journalist Christian Stahl nach Neukölln, das damals noch als besonders verrufen galt. Der nette Nachbarsjunge, der ihn im Flur höflich grüßte, entpuppte sich als Kleinkrimineller, der schon mit 13 Jahren in der Intensivtäterkartei geführt wurde und mit 16 die Rütli-Schule verlassen musste, weil er Mitschüler bedroht, erpresst und geschlagen hatte. Mit 17 beging er mit Kumpels dann einen brutalen Raubüberfall in Hamburg, für den er zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass dieser Nachbarsjunge so eine kriminelle Karriere machen konnte, ließ Christian Stahl nicht los und brachte ihn dazu, diesem erst einen Film und jetzt ein Buch zu widmen.
Zwischen 99 bis 167 solcher Intensivtäter gibt es, je nach Zählweise, in Berlin-Neukölln, die Hälfte von ihnen trägt einen arabischen Namen. Insofern kann man die Geschichte von Yehya E. als exemplarisch ansehen. Yehya E. war einen Monat alt, als er 1990 mit seinen Eltern aus dem Flüchtlingslager im Libanon, in dem er geboren wurde, nach Berlin kam. Sein Vater durfte hier als „geduldeter“ Flüchtling 13 Jahre lang nicht arbeiten, weil er in Deutschland nicht heimisch werden sollte, sein Sohn darf es bis heute nicht.
Der „Boss von der Sonnenallee“
Stahl nennt die Duldung eine „behördlich verordnete Perspektivlosigkeit“ und sieht einen Zusammenhang zwischen den deutschen Asylgesetzen und der hohen Kriminalitätsrate in Berlin-Neukölln. Anschaulich beschreibt er die Schikanen der Ausländerbehörde, die Yehya E. 2007 sogar in die Ukraine abschieben wollte, weil der Libanon sich weigerte, ihn aufzunehmen. Bis heute, mit 23 Jahren, darf er weder Berlin verlassen noch seinen Führerschein machen, und weil er straffällig geworden ist, hat er auch keine Chance, ein dauerhaftes Bleiberecht oder eine Arbeitserlaubnis zu erhalten.
Auf der Straße als „Boss von der Sonnenallee“ gefürchtet, schlief er zu Hause noch im Kinderzimmer. Von Amts wegen zur Untätigkeit verdammt, flüchtete er sich erst recht in die Kriminalität. Christian Stahl entschuldigt und beschönigt das nicht, aber macht diese Entwicklung nachvollziehbar. „Wir schaffen den Nährboden für die kriminellen Kinder von Neukölln und beschuldigen dann die Heimatländer ihrer Eltern“, findet Stahl.
Im vergangenen Jahr wurde Yehya E. rückfällig, beteiligte sich an mehreren Raubüberfällen und muss dafür nun bis mindestens 2018 im Gefängnis sitzen. Wenn er aus der Haft kommt, wird sein Bezirk ein anderer sein. Schon jetzt ist Neukölln ein beliebtes Wohnumfeld geworden für Studenten, Künstler und junge Familien, die wegen der günstigen Mieten in den ehemaligen Brennpunktbezirk ziehen.
Die Klage über die rasante Gentrifizierung des Bezirks hat die Klage über Parallelgesellschaften und gescheiterte Integration abgelöst, und Buschkowsky wird nur noch bis 2016 Bezirksbürgermeister sein. Dann wird auch er Geschichte sein – und mit ihm vermutlich all die Bücher, die einen Abgesang auf Neukölln als Menetekel der Republik angestimmt haben.
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