Neues Album von Helm: Ästhetik des Funkenstiebens
Das neue Noise-Album „Axis“ von Helm erinnert unseren Autor daran, wie für ihn Störgeräusche zu Musik wurden. Ein Essay zur Ästhetik von Lärm.
Als Teenager habe ich Schlagzeug in einer Punkband gespielt. Eines Tages bemerkte ich im Proberaum ein Klackern, das von der mechanischen Heizungsuhr kam. Ich hörte ihr einige Minuten lang zu, bis ich entschied, den seltsamen Rhythmus als Vorlage zum Üben zu verwenden.
Da wurde mir klar, dass auch Störgeräusche Musik sein können. Ich schüttelte seitdem nur noch mürrisch den Kopf, wenn mir der Musiklehrer in der Schule erklärte, was „richtige“ Musik sei und was nicht. Richtig hieß für ihn so viel wie: Schön, was wiederum so viel hieß wie: harmonisch, geordnet oder noch verdächtiger: rein. Mir wurde klar, dass Musik immer eine Neuverhandlung von Ästhetik ist, vor allem von Schönheit.
Das neue Album „Axis“ des britischen Musikers Luke Younger alias Helm kann exemplarisch für diese Aushandlung stehen. Schönheit unterliegt hier allem anderen als einer Ideologie von Ordnung und Reinheit. Es knarzt, fiept, blubbert und kracht derart, dass mein Musiklehrer von dem Lärm womöglich einen Kreislaufkollaps bekommen hätte.
So klaustrophobisch wie bei der Kernspin
Beim ersten Durchlauf fühlt es sich manchmal an wie im Kernspintomografen. Die medizinische Untersuchung in jener engen, zylinderförmigen Röhre ist nicht nur ähnlich lärmend, sondern gelegentlich auch so klaustrophobisch wie die sieben Stücke von Younger.
Helm: “Axis“ (Dais/Secrectly Canadian/Cargo)
Er knüpft damit an seine vorherigen neun Alben und etlichen EPs an, in denen er ebenfalls die Grenzen und Zentren eines Genres auslotet, das seit seinen Anfängen in den 1980er Jahren eine Absage an das Schöne ist: Noise, eine vorwiegend elektronische Instrumentalmusik, die weniger aus Tönen – Klänge mit regelmäßiger Schwingung – als aus Geräuschen besteht – Klänge mit unregelmäßiger Schwingung und Tonhöhe.
Schönheit wird bis heute wie in der Kunst, mal abgesehen von Punk, Industrial und der Neuen Musik, mit Symmetrie und Harmonie verbunden. Ihr ästhetisches Äquivalent ist nicht das Hässliche, sondern etwas, das sich der Sprache entzieht und bedrohlich wirken kann, das Erhabene oder Sublime. Noisemusik nähert sich diesem Zustand. Quietschen, Rauschen, Blubbern, Fiepen, plötzliche Feedbacks, all das bringt die Idee dessen durcheinander, was bis heute im euroamerikanischen Raum als schön gilt:
Noise bleibt offen für Außermusikalisches
Harmonische Akkorde wie in der spätromantischen Klassik, sinnhafte Songtexte in Pop und Rock und ihr Persönlichkeitskult oder die lineare Abfolge von Strophe und Refrain, wie sie in vielen Genres vorherrscht, von HipHop bis Black Metal. Die Musik von Helm zeigt, dass Noise längst nicht mehr nur in der Negation verharrt, sondern sich zum vielseitigen Genre entwickelt hat, das sich auch anderen Einflüssen öffnet.
Mal abgesehen davon, dass der Mittdreißiger Younger sich seit Jahren in den hippen Magazinen dieser Welt mit coolen Porträts vor großstädtischen Kulissen zu inszenieren weiß, weicht sein Schaffen auch klanglich ein bisschen vom Ursprungsmythos des Noise ab. Auf den letzten drei der inzwischen zehn Alben, etwa „Olympic Mess“ (2015), sind Spuren von Disco und Dub Techno zu hören. „Axis“ wirkt trotz der Gastbeiträge renommierter Experimentalmusiker:innen, wie der britischen Cellistin Lucy Railton, dem US-Gitarristen Mark Morgan und dem verstorbenen Violinisten John Hannon, ziemlich puristisch.
Seine klar umgrenzte Klangwelt aus abstrakten, vorwiegend beatlosen Soundelementen hängt vielleicht mit der Entstehung zusammen. Die Stücke waren ursprünglich als Soundtrack für ein Tanzstück konzipiert, doch weil es pandemiebedingt auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, hat Younger das Material für den Kontext seines Albums neu bearbeitet – in der heimischen Wohnung in London während der Lockdowns. Trotzdem oder genau deshalb lockt „Axis“ das Ohr in ein imaginäres Außen. Seine Klangwelt ist weder eine pastorale Idylle noch eine zeitgenössische Dystopie. Es ist eine Atmosphäre, die sich beim Hören nach und nach aufbaut, wie beim verzögerten Rendern einer Grafik, wenn der Prozessor überfordert ist.
Alles fließt ineinander
Es gibt hier keine Gravitation, stattdessen fließt alles ineinander: die Glissandi-Klänge im Stück „Mole“, bei denen sich die Tonhöhen beim Verbinden zweier Töne kontinuierlich verändern; die immer nur kurz vorbeischnellenden Sounds im Track „Repellent“, die an die brausenden Motorengeräusche von Formel-1-Rennwagen erinnern. Helm kreiert Musik, die wegen ihrer semantischen Offenheit und Geräuschhaftigkeit zu jener musikjournalistischen Metaphorik verführt, die das Gehörte in eine Zwangsjacke subjektiver Eindrücke sperrt, aber bestenfalls eine ungefähre Vorstellung davon gibt.
Empfohlener externer Inhalt
Helm – Repellent
So beginnt das Album im Track „Para“ mit einem Knistern, das dem eines kaputten Stromkabels ähnelt, das bei einer Baustelle vergessen wurde und im Zwielicht der nächtlichen Stadt herumliegt. Ab und zu wird das Kabel von einem Regentropfen erfasst und zischt vor sich hin. Die so erzeugten Funken erwecken die herumstehenden Maschinen zum Leben, die nun in einen wabernden, sirenenhaften Gesang einstimmen. Als wollten sich die Maschinen beklagen. Vielleicht über ihr Schicksal, immer nur Werkzeuge sein zu dürfen, oder den Zustand der Welt und die Entbehrungen, die der Brexit mit sich bringt.
Helm befreit Maschinen aus ihrem funktionalen Dasein. Er gewährt ihnen ein Eigenleben, lässt sie Geschichten erzählen. Geschichten, die vor allem eines erfordern: Geduld. Viel Geduld. Vor allem im Finale, dem achtminütigen Titelstück „Tower“, das Younger in den Linernotes bezeichnet hat als „das wahrscheinlich dramatischste Stück Musik, das ich je gemacht habe“. Damit durch die Wohnung zu tanzen, dazu headzubangen oder sich kurz mal gute Laune verschaffen? Unmöglich!
Kathartische Klangreise
Der Brite bleibt auch hier der Idee von Noise treu, er zeigt der binären Definition von Musik und dem Zwang zur schnellen Befriedigung den Mittelfinger. Ist die Spannung erst einmal aufgebaut, werden die Hörer:innen mitgenommen auf eine kathartische Reise, wie in einem breiten Bus, der sich eine enge Straße mit steilem Abhang mühsam hinaufschlängelt.
Leicht verdaulich ist die Musik von Luke Younger also nicht. Deshalb werde ich wohl auch zum nächsten Helm-Konzert alleine gehen müssen und werden meine Freund*innen wieder mal verpassen, was ihnen keine Meditations-App und Spotify-Playlist jemals bieten kann.
Die sieben Stücke, ja Noise als Genre generell, laden zum konzentrierten Hören ein. Hören wird zum Hinhören, zur kreativen Praxis, die neue Atmosphären, manchmal gar neue Emotionen hervorbringt, von denen gar nicht klar war, dass es sie gibt – wie die schöne Verwirrung zwischen Melancholie und Euphorie, zwischen woanders und hier sein, wenn ein Rauschen sich in tonale Klänge verwandeln.
Dieses Zuhören ist, im Sinne des Konzepts deep listening der US-Komponistin Pauline Oliveros, ein empathischer Akt. Er verknüpft Hörer:innen mit ihrer Umwelt – und lässt sich auch im Alltag, jenseits von Musikhören anwenden. Das heißt nicht, dass man sich mit der Heizungsuhr anfreunden muss.
Doch wenn die Feuerwehrsirene, das rotierende Windrad, ja sogar der furchteinflößende Kernspintomograf keine Störgeräusche, sondern ästhetische Phänomene sind, blickt die Person, die sie wahrnimmt, vielleicht weniger herrschsüchtig auf Dinge, Wesen und die menschenversehrte Erde, die sie umgeben. Die vermeintliche Banalität von Alltagsklängen wird zur Poesie.
Ästhetik heißt nicht nur, etwas schön zu finden oder nicht. Es bedeutet, die Welt in Beziehung zu anderen und anderem zu spüren – zu verstehen, was auf mich einwirkt und auf was ich einwirken kann.
Helm: „Axis“ (Dais/Secretly Canadian/Cargo)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!