Produzent Lee Gamble mit neuer Platte: Eine Schlange klingt verführerisch
Abstraktion ist für ihn sehr wirklich: Das neue Album des britischen Produzenten Lee Gamble „In a Paraventral Scale“ vertont den Kapitalismus.
Abstraktion ist wie Freiheit, sie hat negative und positive Seiten zugleich. Einerseits hat sie uns versklavt. Ihr brutales Gleichmachungspotential hat im Lauf der Geschichte alles menschliche Schaffen dem Kapital untergeordnet. Andererseits hat sie uns befreit. Mit ihrer Fähigkeit, das Wesentliche herauszustellen, können wir Dinge erfinden, die im Gegensatz zum „Konkreten“ keinen unmittelbaren Bezug zur so genannten Wirklichkeit haben.
Für den britischen Produzenten, DJ und Sound-Künstler Lee Gamble ist das Abstrakte realistischer als alles andere. „Abstraktion wie in den Gemälden von Francis Bacon‶, sagt er im Skype-Interview, erzeuge bei ihm ″starke Emotionen. Und was gibt es Wirklicheres als das?“
Sein aktuelles Album „In a Paraventral Scale“ ist die akustische Beweisführung seiner Idee – und ein „Navigationsgerät“ für weitgehend beatlose Klanglandschaften zwischen Ambient, Klangkunst und skelettierten Clubtracks. Das Stück „Fata Morgana“ beginnt mit einer vertrauten Schichtung harmonischer Klänge, bevor sie gnadenlos zu einem leiernden Wabern verfremdet werden, als würde feste Materie zähflüssig.
In „BMW Shuanghuan X5“ verwandelt Gamble einen startenden Fahrzeugmotor zur bedrohlichen Soundwand, die in völlige Stille mündet. Es fühlt sich an wie eine fremde Welt, die Klangpartikel aus vertrauten Geräuschen enthält. Eine Form von akustischer Science-Fiction – und das ist auch intendiert.
Gamble zufolge leben wir in einer Welt der „Hyperrealität“. Nach dem vom Philosophen Jean Baudrillard beschriebenen Phänomen lässt sich die reale Welt nicht mehr von ihrer Simulation unterscheiden. „Egal, ob ich meinen PC anschalte oder in meiner Wahlheimat London auf die Straße gehe, überall erlebe ich totalen Informationsoverload“, sagt der Brite mit der charakteristischen Matrosenmütze, der nur ein Stichwort benötigt, um endlos, aber nie willkürlich drauflos zu assoziieren.
Daher liegt es nahe, einen Text über Gamble mit der Diskussion eines Begriffes zu beginnen: Konzepte sind Gambles zentrale Inspiration. Nicht, weil der ehemalige Fabrikarbeiter aus Birimingham ein akademisches Interesse daran hegt. Als Autodidakt kann er weder Noten lesen, noch beherrscht er ein Musikinstrument. In seinem im Erwachsenenalter auf dem zweiten Bildungsweg nachgeholten Studium der ″Sonic Arts‶ lernte er vorwiegend, synthetische Klänge zu kreieren.
Leitmotiv ist der „Semioblitz“
Gambles neues Album „In a Paraventral Scale“ ist gedacht als erster Teil eines Triptychons im Stile von Francis Bacon. Damit möchte Gamble ein Thema aus drei unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Leitmotiv ist der „Semioblitz“, mit dem der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher aggressive sensorische Attacken in Städten und digitalen Räumen beschrieben hat.
In Teil eins verhandelt der Künstler die kapitalistische Verführung, die im Alltag lockt. „Eine Art von Vergiftung“: Gamble verweist auf den Titel, der das Muster von Schlangenhäuten bezeichnet. Schlangen als Symbol der Verführung, aber auch als Raubtier. „Ich habe versucht, die Schlange akustisch zu übersetzen, in etwas Lineares.“ Die Autoklänge verweisen auf das kapitalistische Kulturgut schlechthin, das in der Werbung vor allem über binäre Codes, mit männlichen oder weiblichen Attributen beworben wird. Um derartige Ideen live umzusetzen, arbeitet Gamble seit Jahren mit dem Videokünstler Dave Gaskarth zusammen, der seine Musik in halluzinatorische Bildwelten übersetzt.
Gamble, der vor kurzem im Berliner Club ″About Blank“ auflegte, trennt DJing, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdient, strikt von der Arbeit als Produzent. Auch wenn seine Musik, wie im Stück ″In the Wreck Room‶ mit den geisterhaften Stimmen und Breakbeats tanzbare Elemente enthält, ist der Club für ihn ein Ort des Eskapismus.
Musik ist immer global gewesen
Solche Bedürfnisse standen für Gamble noch nie im Kontrast zu seinem wachen Blick auf die politischen Verhältnisse, die ihn als Kind der Arbeiterklasse derzeit aufwühlen. Lange hat er sich als Linker gefragt, ob es noch Sinn habe, Musik zu machen. Spätestens mit dem Rechtsruck und dem Brexit war ihm klar, dass es keine Alternative gebe, etwas Gegenwärtiges zu machen und nicht nach hinten zu schauen, „wie die meisten Politiker“. Musik sei immer global gewesen und würde Menschen vereinen, während die Politik uns nur auseinandertreibe.
Womit wir wieder bei der Abstraktion wären – und ihrer politischen Dimension. Weil Musik abstrakt ist und keine Sprache, bringt sie Menschen auch ohne „gemeinsame“ Verwurzelungsmythen zusammen. Jetzt rollen manche LeserInnen womöglich mit den Augen. Aber nur die Feier der positiven Abstraktion für das Globale, gegen das Identitäre, für das Multiple und gegen das Binäre, kann uns heute noch weiter bringen.