Neues Album von Cate Le Bon: Häutungsprozesse zwischen Wüste und Insel
Die walisische Künstlerin Cate Le Bon legt mit „Michelangelo Dying“ ein poetisches Artpopalbum vor. Ihre Songwritingkunst katapultiert das auf eine höhere Ebene.
„Meine Freude ist die Melancholie, meine Ruhe sind die Qualen. Die Liebesflamme ist erloschen, die Seele ist kahl“, beschied der italienische Künstler Michelangelo 1547 über seinen Seelenzustand. Im hohen Alter von 71, so die Legende, hatte sich der Gestalter des Deckenfreskos der Sixtinischen Kapelle im Vatikan zurückgezogen und sollte trotz der Bitterkeit, die aus den anfänglichen Zeilen spricht, noch weitere 17 Jahre leben – traurig, einsam und der Liebe verloren gegangen.
Fast 500 Jahre später scheint die walisische Musikerin Cate Le Bon von diesem mythischen Künstlerschicksal inspiriert: Immerhin lautet der Titel ihres neuen Albums „Michelangelo Dying“. Im dazugehörigen Song „Love Unrehearsed“ wird aber schnell klar, dass sich auf Le Bons mittlerweile fünftem Soloalbum vergleichsweise wenig Musik um Renaissancekunst dreht und dafür alles um das komplexe Gefühl Liebeskummer: „Does she sleep like a stone /Cause you touch her more?“, heißt es im Songtext.
Im Gespräch mit der taz redet die Künstlerin nicht um den heißen Brei herum: „Die Musik des Albums ist eine Art vertontes Tagebuch einer Trennung. Mit allem Schmerz, Trauer und der Angst, niemals mehr man selbst zu werden.“ Nur konsequent, dass Le Bon, die sich in den letzten 15 Jahren den Ruf einer herausragenden Songwriterin erarbeitet hat, anscheinend auf distanzierende Ebenen in den Songtexten verzichtet und das gesamte Werk im „Ich“ formuliert.
Viele Künstler*innen in der Geschichte von Pop streuten ein eher allgemeines, vages „Ich“ in ihre Songtexte. Nicht so Le Bon, die darin wiederum keine bewusste Entscheidung sieht: „Ich war die gesamte Zeit mit mir selbst und meinem Herzschmerz beschäftigt. Also heißt es ‚Ich Ich Ich‘. Wie sollte es anders sein, wo es niemand Zweites mehr gibt?“
Cate Le Bon: „Michelangelo Dying“ (Mexican Summer/PIAS)
Live: 12. 11. Säälchen, Berlin
13. 11. Nochtspeicher, Hamburg
14. 11. Gebäude 9, Köln
Geschadet hat der Musik von „Michelangelo Dying“ die Ich-Empirie nicht – ganz im Gegenteil. Es ist das bisher betörendste Werk der Sängerin und Songwriterin Cate Le Bon, die ihr Talent auf dem für den Mercury-Preis nominierten Album „Reward“ (2019) bereits unter Beweis gestellt hat und als Produzentin für Devendra Benhart, Wilco und St. Vincent.
Textwelten, aus der eigenen Rippe geschnitten
Auf „Michelangelo Dying“ kommt alles zusammen, was es für ein großes Artpopwerk braucht: Hypnotische Instrumentals aus einer alternativen Zeitleiste, in der David Bowie und Nico auf den Spuren von US-Gonzoautor Hunter S. Thompson durch die Wüste von Nevada rasen; postmoderne Meerjungfrauenvocals, die geschickt zwischen intimem Schlaflied und verkünstelter Intonation balancieren; und eben Textwelten, die aus der eigenen Rippe geschnitten sind, den Anspruch vom Großen zu erzählen dennoch nicht aus den Augen verlieren.
Ja, „Michelangelo Dying“ ist eines von jenen Alben, das langsam, dennoch unausweichlich Besitz von den Hörer:innen ergreift, Gedanken kapert und einen tief ins Seelenleben der Komponistin blicken lässt – ohne je zur Nabelschau zu verkommen.
All dies – und noch so einiges mehr – bewältigen die zehn Songs. Sei es die smarte und berührende Beobachtung, dass Herzschmerz und vielleicht sogar das Leben als solches nur ein „Ride“, also ein beschwerlicher Ritt, ein Rodeo ist. Oder die leiernden, quengelnden Gitarren, die, durch Filter und Echos verzogen, wirken, als wären sie einem Post-Americana-Fiebertraum entflohen. Oder die omnipräsente Nähe zum experimentellen Artpop der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre, zu Kate Bush und Laurie Anderson.
Alles an Le Bons neuem Album hätte man vor 20 Jahren in Rezensionen noch als „anbetungswürdig“ bezeichnet. Ein Urteil, das John Cale teilt: „Cate Le Bon hat eine schöne Stimme, aber wie sie diese einsetzt, das ist der wahre Zauber.“ Eine Adelung gleich von höchster Stelle. Als Mitgründer von Velvet Underground hat der ebenfalls in Wales gebürtige Bratschist und Sänger Rock- und Avantgardegeschichte geschrieben. Nach seinem Ausstieg im Jahr 1968 entwickelte Cale erfolgreich eine Solokarriere, die jetzt mit einem besonders rührenden Gastbeitrag auf „Michelangelo Dying“ abgerundet wird.
Naturverbundene Kindheit
Cate Le Bon, die beim Sprechen auf charmante Weise wie abwesend wirkt, gibt das Kompliment zurück und verweist auf Cales lange Karriere, die von produktiven und kreativen „Häutungsprozessen“ geprägt sei. Eine Qualität, die sie auch für sich selbst und ihre Kunst in Anspruch nehmen möchte: „Jedes neue Album ist das Produkt einer Häutung, bei der eine weitere Schicht zutage tritt.“ Angestrebte Progressivität prägt somit auch die Karriere der 1982 als Cate Timothy geborenen Sängerin.
Aufgewachsen ist sie auf dem Land in Wales, in einem Dorf mit gerade 70 Einwohnern. Zusammen mit ihrer Schwester verbrachte sie dort eine naturverbundene Kindheit, die bis heute maßgeblich ihre Kompositionen beeinflusst: Landschaften, insbesondere Einöden, sind wiederkehrendes Thema in ihrer Musik. Dennoch war es die Liebe und nicht nur die Faszination für lebensfeindliche Terrains, die sie in den Zehner Jahren in die kalifornische Mojavewüste trieb.
Dort fand sie mit dem Sänger Tim Presley von der US-Indieband White Fence zwischen 2015 und 2020 ein neues Zuhause. Zunächst noch in Los Angeles begannen der Psych-Garage-Rocker und die Singer-Songwriterin mit Vorliebe für E-Gitarren gemeinsam Alben unter dem Namen Drinks aufzunehmen. Der eine beeinflusste dabei stets die musikalische Entwicklung der anderen und umgekehrt. Um sie herum entstand ein Netzwerk, von denen der Produzent Samur Khoudja für Cate Le Bon der wichtigste ist. Khoudja hat mit Seahorse Sound eines der gefragtesten Tonstudios von Los Angeles aufgebaut, dort hat auch schon Chappell Roan Musik eingespielt.
Gemeinsam nahmen Le Bon und Khoudja bislang drei Alben auf: Dem bereits erwähnten „Reward“ folgte „Pompeii“ (2022) und nun „Michelangelo Dying“. Die drei Soloalben neigen sich zwar hörbar zum Artpop, trotzdem ist die Künstlerin selbst unsicher, ob die Musik der drei Werke zusammenhängt: „Eine Trilogie war nicht geplant, aber mehrere Leute sprachen mich darauf an, dass die Musik der drei Alben zusammenhängt.“ Immerhin hätten sich die Übergänge zwischen den Produktionen geradezu gleitend angefühlt.
Schmerzvolle Trennung
Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn zwischen „Pompeii“ und dem neuen Album kam es zur Trennung von ihrem Partner Tim Presley. Ein schmerzvoller Prozess, denn „gerade wenn man der gleichen Kunstform nachgeht“, erklärt sie, „schreibt sich der andere in die – auch künstlerische – DNA ein. Man verliert also nicht nur einen Menschen, sondern auch etwas von sich selbst.“ Dabei komme ihr das Wort „Amputation“ in den Sinn. Amputationen tun weh, aber seien immer lebensrettende Maßnahmen. Auch bei ihr.
Den Verlust gleicht Le Bon mithilfe einiger Künstlerkolleg:innen aus. „Michelangelo Dying“ erscheint beim Label Mexican Summer, für das Le Bon seit einigen Jahren arbeitet. Neben Samur Khoudja sind weitere Bekannte aus dem eigenen Kosmos zu hören: Euan Hinshelwood spielt Saxofon und die Drummerin Valentina Magaletti aus London ist mit von der Partie. Die „schier unendliche Weite“ der Mojavewüste, die sie verlassen hat, fand sie inzwischen an anderen Orten der Welt. Dazu gehört das Meer um die griechische Insel Hydra, auf der einige Aufnahmen für „Michelangelo Dying“ entstanden sind.
Auf der autofreien Insel in der Ägäis, die in den 1950er- und 60er-Jahren Hippies und Beatliteraten angezogen hat, fand sie zur Dronemusik. Le Bon sagt: „Werke von Eliane Radigue, Ellen Arkbro und Laurel Halo waren da, wenn ich Umarmungen gebraucht habe. Medizin gegen Herzschmerz und Heimweh.“ Es sei das musikalische Pendant zur Wüste gewesen, die sie so vermisse.
Der Musik auf „Michelangelo Dying“ hört man die Nähe zum Dronesound nur bedingt an. Was man stattdessen hört, ist eines der berührendsten Songwriterinnen-Alben der letzten Jahre.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!