Neuer Roman von Thomas Melle: Versuchte Selbstauslöschung
Thomas Melle schreibt in „Haus zur Sonne“ erneut über seine bipolare Störung. Im Roman findet er eine Sprache für das Unvermittelbare.

Über psychische Erkrankungen und Depression im Besonderen zu schreiben, bedeutet in der Regel, sich aus einem bestimmten Set an Metaphern und Bildern zu bedienen. Gerne greift man zur Farbe Schwarz oder beschreibt den depressiven Zustand als sinnbildlichen Abgrund, in den man gestürzt ist.
Die Metapher schützt den Betroffenen, so meint man, vor Scham und Stigma, vor dem Ausgeliefertsein und der Nacktheit vor den Symptomen. Das Bild macht das Leiden erträglicher, denn es verbirgt den monströsen Charakter der Erkrankung, die wie kaum eine andere inkompatibel ist mit dem Leben unter Menschen und ultimativ auch mit dem Leben an sich.
„Tell all the Truth but tell it slant“, forderte Emily Dickinson einmal von der Literatur: die Wahrheit erzählen, jedoch nicht geradeheraus. In der Verfremdung liegt schließlich die vielleicht größte Kraft der Literatur. Durch Verfremdung kann geschrieben werden, was unsagbar ist, erzählt werden, was sonst übersehen bliebe, und Literatur wird universell.
Der Schriftsteller Thomas Melle wählte bereits mit seinem 2016 erschienenen Buch „Die Welt im Rücken“ einen umgekehrten, aber ebenso dichterischen Ansatz. Auf drastische wie unverblümte Weise schilderte der Autor in diesem autobiografischen Roman sein Leben mit einer bipolaren Störung, in dem die einzige Kontinuität im hoffnungslosen Wechselspiel zwischen Manie und Depression besteht. Und auch Melles neuer, autofiktionaler Roman „Haus zur Sonne“ ist kaum metaphernreiche Selbstschonung – sondern versuchte Selbstauslöschung.
Thomas Melle: „Haus zur Sonne“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025, 320 Seiten, 24 Euro
Wer hier eincheckt, hat vom Leben genug
Nachdem der namenlose Protagonist ein Buch über seine bipolare Erkrankung veröffentlicht und im Zuge dessen schon an seine Heilung geglaubt hat, findet er sich stattdessen erneut in der Talsohle einer fürchterlichen depressiven Episode wieder. Über eine Zeitungsanzeige stößt er auf eine rätselhafte Institution, die durch „Traumverwirklichung und Selbstschaffung“ hoffnungslosen Fällen wie ihm Heilung verspricht. Doch bald wird klar: Dieses Sanatorium befindet sich auf keinem Zauberberg und der Protagonist ist höchstens ein umgedrehter Hans Castorp.
Denn wer hier eincheckt, hat vom Leben genug und willigt ein, den Aufenthalt am Ende mit ebenjenem zu bezahlen. Bis es so weit ist, bekommen die lebensmüden Patient:innen – hier als Klienten geführt – allerdings jeden nur erdenklichen Wünsch erfüllt, ob nun in real oder in von den Ärzt:innen gesteuerten „Simulationen“, die als Baudrillard’sche Simulacra langsam, aber sicher die Grenze zwischen Tatsächlichem und Geträumtem verschwimmen lassen, eine sedierende Gegenrealität bilden und gleichzeitig die heimlichen Sehnsüchte des Protagonisten und weiterer Patienten offenbaren.
Um Wärme und Geborgenheit geht es da oft, um trostspendende Kindheitserinnerungen, aber je länger der Aufenthalt andauert, desto öfter mischen sich auch gewaltsame Sterbefantasien und Wahnhaftes ins Programm: Die Todessehnsucht tötet den durchaus immer wieder aufkeimenden Lebensmut zuverlässig ab.
Ein wenig fantastisch wirkt das stellenweise, wenn sich zum Beispiel als Sponsoren des Hauses zur Sonne das Bundeswirtschaftsministerium und die nicht näher bestimmte „Werbeindustrie“ herausstellen, die die vorgetragenen Wünsche der Sterbewilligen zu Marktforschungszwecken verwerten. Diese Sozialkritik wirkt unnötigerweise ausgedacht, denn in Gestalt von Peter Thiel und Palantir kommt das Böse heute mit weitaus weniger plakativen „Bad Guy“-Film-Tropen aus und kennt deutlich weniger drastische Mittel, die Träume und Wünsche aller anzuzapfen.
Der Tod des Autors
Schwerfällig wird es, wenn Traumsequenz auf Traumsequenz folgt, die sich als Non sequitur nicht immer zu einer stringenten Handlung kombinieren lassen. Doch natürlich wird hier auch aus unverlässlicher Position heraus erzählt, schließlich haben die bipolare Erkrankung und die jahrelange Medikamenteneinnahme Spuren hinterlassen.
Ja, nun, bei wem denn eigentlich? Seit der „Welt im Rücken“ ziehen sich Fragen nach Autorschaft durch Melles Werk. Möchte man Roland Barthes folgen, der in seinem Essay „Der Tod des Autors“ denselbigen als alleinige Bedeutungsinstanz über die Zeichen beerdigte, steht man vor einem Dilemma. Wie mit einem Text umgehen, in dem der Protagonist seinen eigenen Tod nicht nur fordert, sondern auch selbst einzufädeln im Begriff ist? Und der eben bis auf den Namen alles mit dem tatsächlichen Autor gemein hat?
Es scheint verlockend, hier Autor und Protagonist zu einem zusammenzufassen, sich dann vielleicht Sorgen um den Menschen Thomas Melle zu machen, oder sich vom Inhalt zu distanzieren, den Text im Angesicht der Erkrankung des Autors als beachtenswert zu würdigen – und ihn dadurch zum pathologischen Fallbeispiel zu degradieren.
Man täte diesem Buch unrecht, denn es ist eine große literarische Leistung, in der Melle beinahe Unmögliches schafft: Das Schrecklichste an der Depression ist vielleicht ihre Unvermittelbarkeit. Für die Missverständnisse, die daraus erwachsen, muss sich der Depressive nicht nur vor anderen, sondern auch sich selbst rechtfertigen. In der Depression Sinn zu ergeben, scheint genauso unmöglich, wie von anderen verstanden zu werden.
Trotz in der Seelenzergliederung
Und doch: Melle gelingt es, eine Sprache für einen Zustand zu finden, der eigentlich unerzählbar ist. Schließlich ist die Depression geprägt von Stillstand, Nichtstun, vor lauter kreisenden Gedanken bald ganz die Orientierung zu verlieren. In „Haus zur Sonne“ wird einem schnell schwindelig. Die Dimension der Krankheit wird einem auf erschreckende Weise bewusst, und es sind vor allem die Kapitel mit den Rückblicken auf die schlimmsten Phasen der Depression, die einem durch den Kopf fahren wie die Aphorismen von Emil Cioran und dort kleine Wunden hinterlassen.
Doch neben all der Seelenzergliederung ist es auch immer wieder Trotz, der durchklingt: „Einmal nicht nur sich selbst anklagen. Einmal kurz auch zeigen, wie falsch und bescheuert sich andere verhalten haben. Ich wollte das nicht mehr verschweigen. […] Die Häme, die Gleichgültigkeit, die Freude an meinem Untergang. Ich hatte es ja gesehen und gehört.“
Man kann das staatlich finanzierte „Haus zur Sonne“ auch als bittere Satire auf eine Gesellschaft lesen, in der Depression eine folgenreiche Abweichung von der Norm darstellt und die über ihre Mechaniken das Leiden der Betroffenen noch potenziert und sich am Ende nicht besser zu helfen weiß, als diese Menschen in einem halb-freiwilligen Euthanasie-Programm zu entsorgen.
Denn depressiv zu sein, das bedeutet nach Melle auch, zu einer solipsistischen Existenz zu werden, die den Anforderungen der Klassengesellschaft nicht mehr genügt und keinen Zweck mehr erfüllt. Sich der zweckgemeinschaftlichen Verwendung zu entziehen, ohne einen revolutionären Gedanken dabei zu hegen, ist dabei vielleicht noch verdächtiger, als einen Umsturz anzuzetteln. Denn die Motive des Revolutionärs sind in der Regel zumindest für jeden zu begreifen, der es versucht.
Leiser literarischer Hardcore
Melles neuer Roman ist der Beweis, dass literarischer Hardcore auch mit leisen Tönen gespielt werden kann. Es lohnt sich, auch diesen leisen Tönen zuzuhören, schließlich befindet sich die manisch-depressive Erfahrung an den Enden desselben Spektrums, auf dem sich auch die Gesunden wiederfinden.
Dann ist das Manisch-Depressive nur der maximale Ausschlag in der Amplitude, und in einem so gelebten Leben, im Wechsel zwischen manischem Zeitraffer und depressiver Verlangsamung bis hin zum Stillstand, zeigen sich all die Einsamkeit stiftenden Mechaniken der modernen Klassengesellschaft im Extremum. Und dann ist „Haus zur Sonne“ zwar ein sehr schmerzhafter und trauriger, aber auch entlarvender Roman der Zeit.
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