Neuer Roman von Michel Houellebecq: Die Aufweichung der Kampfzone
Michel Houellebecq entdeckt, wie vielschichtig menschliche Beziehungen sein können. Auch sonst gibt es in seinem neuen Roman viel zu staunen.
Gegen Ende dieses teilweise disparaten, langen, oft holpernden, streckenweise aber auch berührenden Romans wird viel gelesen. Der nach einem Schlaganfall gelähmte Familienpatriarch und Ex-Geheimdienstmitarbeiter, der nur noch mit den Augen blinzeln kann, liest Balzac, „Die menschliche Komödie“. Sein Sohn Paul Raison, die Hauptfigur des Romans, liest mit Begeisterung Arthur Conan Doyle und darauf etwas weniger begeistert Agatha Christie.
Und man selbst kann beim Lesen – auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass Michel Houllebecq diesen Klassiker im Sinn hatte – an Theodor Fontanes Spätwerk „Der Stechlin“ denken. So wie Fontane seinem alternden Junker gönnt Houellebecq seinem durchschnittlichen Helden Paul sowie dessen Frau Prudence einen unendlich langen, allmählich verglimmenden Schlussakkord.
Er entzieht der Handlung gewissermaßen die Farben, bis auf den letzten 150 Seiten nur noch so etwas übrigbleibt wie eine Meditation über menschliche Würde und die Endlichkeit des Daseins, an der alle medizinische Kunst nichts zu ändern vermag. Das ist einer der Abschnitte, an denen einen der Roman nahekommt.
Dabei hat er wie ein Buch begonnen, in dem sich alle – die Houellebecq-Fans wie die Houellebecq-Verächter – schön übersichtlich in ihren jeweiligen Gräben gemütlich einrichten können.
Michel Houellebecq: „Vernichten“. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. Dumont, Köln 2022, 624 Seiten, 28 Euro
Es gibt geheimnisvolle terroristische Anschläge, hinter denen offenkundig ein zunächst geheimer Plan steckt, der sich, so glaubt man, irgendwann enthüllen wird. Der französische Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2027 spielt eine große Rolle (daraus, dass er den Roman in der nahen Zukunft ansiedelt, macht Michel Houellebecq sonst nicht viel, womöglich wollte er nur die Darstellung der Coronagegenwart umgehen). Schrittweise wird zudem ein Figurentableau eingeführt. Fast wie in einem dieser so recherchierten wie übersichtlichen Politthriller à la John Grisham.
Wie eine Familienaufstellung
Doch allmählich verschiebt sich das. Die politischen Ebenen laufen zwar weiter, aber sie werden in den Hintergrund gerückt. Und im Vordergrund findet sich Paul wieder, ein mittelalter, unglücklich verheirateter Berater des Wirtschaftsministers, samt seinen beiden Geschwistern Cécile und Aurélien sowie deren Ehepartner*innen. Nach dem Schlaganfall ihres Vaters kommen sie auf dem Landsitz der Familie im Beaujolais zusammen, um sich um ihn zu kümmern.
Ziemlich genau in der Mitte des Buchs gibt es ein gemeinsames Essen der Geschwister, und dabei wird der Roman geradezu zur Familienaufstellung. Wenn man liest, wie streckenweise nahe Houellebecq seinen Figuren zu kommen versucht, wundert man sich.
Dass die Vereinzelung der Menschen in den westlichen Gesellschaften ein abgeschlossener Vorgang ist, ist eine der Thesen, die man zuletzt von ihm registrieren konnte. In „Vernichten“ scheint er aber auch darauf neugierig zu sein, wie denn diese vereinzelten Menschen nun miteinander umgehen. Und, siehe, teilweise kommen sie ganz gut miteinander aus.
Vertrauen ins Leben
Natürlich geht nicht alles gut. Es gibt Probleme und Konflikte innerhalb der Familie. Es wird auch Schicksalsschläge geben. Und nicht alle Beteiligten werden, wie Cécile es ausdrückt, das Vertrauen in das Leben aufbringen, das es in der Moderne braucht.
Doch es gibt auch die Möglichkeit für Bündnisse und Arrangements unter den Figuren. Und Paul und seine Frau Prudence, die zu Beginn seit Jahren zwar in derselben Wohnung, aber getrennt voneinander leben, kommen ganz allmählich wieder zusammen. Man staunt viele Kapitel lang darüber, wie feinmalerisch und geradezu zart der sonst in vielem ja eher robuste Erzähler Michel Houellebecq hier vorgeht.
Dass Houellebecq ein reaktionärer Denker ist, der solchen Kategorien wie dem Untergang des Abendlands nachhängt und Emanzipation restlos für einen Trick hält, um die Solidarität unter den Menschen zu unterlaufen und nur noch egoistischen Motiven nachzugehen, das weiß man ja. Wer will, findet Material dazu auch in diesem Roman.
Die Linke hat abgedankt
Demokratische Wahlen sind hier im Grunde ein Witz. Politische Medienberaterinnen kann sich Houellebecq nur entweder als Zynikerin oder als Männerfantasie vorstellen. Die „moralische Linke“ hat abgedankt. Die Böse in der Familie ist eine linksliberale Journalistin. Dafür, dass der zunächst schon im Heim gut versorgte Vater wieder verfällt, sorgt ausgerechnet die Gewerkschaft.
Doch das alles trifft nicht den Kern dieses Buchs. „Vernichten“ ist kein Thesenroman, es geht in ihm nicht um „Provokation“. Vielmehr ist das Buch literarisch unbedingt darin ernst zu nehmen, dass hier Thesen nicht einfach illustriert, sondern implizit auch hinterfragt werden und dass der Text sich als klüger als sein Autor erweisen kann.
Der Glutkern des Buchs besteht also vielmehr darin, dass Michel Houellebecq, mit aller Vorsicht, offensichtlich dabei ist, die Bedeutung menschlicher Beziehungen wiederzuentdecken und dabei vor allem glückende Beziehungen intersubjektiv und nicht ausschließlich in den Kategorien von Narzissmus und (weiblicher) Unterwerfung zu denken.
Sex unter Gleichberechtigten
Dass sich in die menschlichen Sozialbeziehungen bis hinein in die Sexualität ökonomische Kosten-Nutzen-Maximen tief eingesenkt haben, war immer eines der Kernthemen dieses Autors und Hintergrund seines Debüttitels von der „Ausweitung der Kampfzone“, der längst zu einem geflügelten Wort geworden ist. In „Vernichten“ sucht und findet Houellebecq zwischen allen Verhängnissen nun aber immer auch Momente des Nichtkämpfens zwischen den Figuren.
Er deutet Schlupflöcher an bis hin zur Möglichkeit, zu zweit der allgemeinen Hölle in einer, wie es an einer Stelle heißt, „eigenen Welt, einer Miniwelt“ zu entkommen. Kurz, abschnittsweise glaubt dieser Roman tatsächlich an die Liebe, und Michel Houellebecq bemüht sich, sie mit Emanzipation kompatibel zu erzählen und dabei sogar eine Sprache zu finden, in der Sex als Kommunikation unter Gleichberechtigten dargestellt ist.
Tatsächlich staunt man zwischendurch immer mal wieder nicht schlecht, etwa wenn Houellebecq Beziehungsprobleme zu jeweils ganz individuell interessanten Phänomenen erklärt: „Zu den Beziehungsproblemen anderer kann man nichts sagen […], sie sind ein geheimer Ort, zu dem niemand vordringt. […] Was innerhalb einer Beziehung geschieht, ist einzigartig, nicht auf andere Beziehungen übertragbar.“
Die Mitmenschlichkeit
Fehlt eigentlich nur noch eine positiv geschilderte Paartherapie, aber so weit geht Houellebecq in seiner Hinwendung zu den alltäglichen Beziehungs- und Familienproblemen durchschnittlicher Menschen dann doch nicht. Und so ganz geheuer ist ihm die Sache offenbar auch nicht. Während im Mittelteil die Frauenfiguren durchaus differenziert geschildert werden, gehen diese Figurenzeichnungen zum Ende hin wieder in Richtung Klischeereproduktion.
Dennoch, der Eindruck, dass dieser Autor, der seinen Mitmenschen schon so zynisch entrückt war, ihnen nun streckenweise nahekommen möchte, bleibt. Wie angefasst man etwa von den Problemen mit seinen alt gewordenen Eltern sein kann, wie stabil auch Paarbeziehungen jenseits aller Probleme sein können, das fängt er immer wieder gut ein. Man nimmt es lesend staunend zur Kenntnis.
Und man denkt nach diesem Roman einen Satz, der einem vor diesem Roman im Traum nicht eingefallen wäre. Er lautet: Wenn selbst ein politischer Reaktionär wie Michel Houellebecq einen literarisch so zu rühren vermag, ist die Sache der Mitmenschlichkeit noch nicht verloren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos