piwik no script img

Neuer Roman von Juri AndruchowytschWenn die Nacht am dunkelsten ist

Der Roman „Radio Nacht“ von Juri Andruchowytsch gleicht einem tiefen Seufzer über die tragische Situation vieler osteuropäischer Länder.

Juri Andruchowytsch im Sommer in Berlin Foto: Sabine Gudath/imago

Es ist fast so, als könne man die Stille der Nacht hören, als nehme man jedes Ein- und Ausatmen, jede Stimmhebung und -senkung des Radiomoderators Josip Rotsky wahr, als sei die Einsamkeit greifbar, die die Menschen, die des Nachts vor ihren Radios hocken, mit dem Host dieser Musiksendung teilen. „Radio Nacht“ heißt seine Show, sie läuft von Mitternacht bis acht Uhr morgens, und sie scheint von einer untergegangenen Welt zu künden, in der die blaue Stunde vor den Empfängergeräten eine ganz eigene Magie erzeugte, ihren ganz eigenen Blues hervorbrachte.

„Radio Nacht“ ist auch der Titel des neuen Romans von Juri Andruchowytsch, und wüsste man es nicht sehr schnell sehr viel besser, könnte man glauben, der berühmte ukrainische Autor habe hier einen genuinen Mu­sik­roman vorgelegt. Die nächtlichen Sendungen bilden die Rahmenhandlung; die 15 Songs, die Rotsky Kapitel für Kapitel episch anmoderiert, sind nicht nur toll kuratiert (man kann sie in einer für den Roman erstellten Playlist nachhören), sondern sie sind auch biografische Begleiter des Protagonisten.

Doch die Vorgeschichte der Hauptfigur ist ebenso bedeutend: Josip Rotsky wird in einem unbenannten osteuropäischen Land berühmt als Barrikadenpianist bei den Aufständen auf einem Poschtowa-Platz, er ist „unmittelbar beteiligt an der geheimnisvollen Liquidation des Diktators, des vorletzten in Europa“, wie wir erfahren. Ein Schlägerkommando bricht dem Oppositionellen die Finger, sodass er selbst keine Musik mehr machen kann. Er wird auf eine Erschießungsliste gesetzt, muss als Dissident ins Exil gehen.

Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Juri Andruchowytsch, neben Serhij Zhadan der wohl bekannteste Autor der Ukraine, erzählt von einem postsowjetischen Land, in dem die Revolution gescheitert ist. Bei einer Buchpremiere in Berlin sagte der Autor kürzlich, er beschreibe einen Staat, der von einer weichen zu einer harten Diktatur übergegangen sei und darin eher Belarus gleiche. Die Referenzen an die Revolution der Würde in Kiew und die Parallelen zum „Piano Extremist“ auf dem Maidan sind natürlich trotzdem eindeutig – wenn man so will, beschreibt Andruchowytsch die ukrainische Geschichte mit anderem Ausgang.

Der Roman

Juri Andruchowytsch: „Radio Nacht“. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp, Berlin 2022. 470 Seiten, 26 Euro

Die erzählerische Raffinesse ist beeindruckend an diesem Buch. Es gibt eine übergeordnete Erzählerfigur, die für ein „Internationales Interaktives Biografisches Komitee (IIBC)“ die Lebensgeschichte Rotskys erforschen soll und dazu mit einer Figur namens Meph eine Art faustischen Pakt schließt.

Ein Rabe als Begleiter

Die Erzählebenen werden dabei so bewusst wie gekonnt verwischt, wenn das IIBC vorsieht, „dass der Biograf, wenn er sich ausreichend tief ins Leben des beschriebenen Anderen versetzt hat, die Fähigkeit erhält, es, dieses Leben, zu verändern und manchmal auch direkt in dessen verschiedene Perioden einzudringen und dort zu agieren. Außerdem – das eigene Leben so zu ändern, dass es manchmal mit dem Leben des Anderen vertauscht wird.“

Der Roman verfügt zudem über eine enorme Verweisfülle. Mit einem ominösen Raben, der den Protagonisten begleitet, bezieht sich Andruchowytsch wohl auf Edgar Allen Poe. Eine Figur, der Rotsky im Gefängnis begegnet, ist nach dem unbezahlten Arbeitsdienst in der Sowjetunion benannt (Subbotnik), und wie elegant die inhaltlichen und sprachlichen Referenzen auch in der deutschen Übersetzung funktionieren, zeigt eine Passage, in der von einer „noch schwachen und unreifen Maid Demokratie“ die Rede ist.

In einem eingeflochtenen Drama treibt Andruchowytsch das Ganze auf die Spitze, darin schimmert sein trotz aller Wut und Trauer nie versiegender Humor durch. Wer die bestenfalls naiv (und besser heuchlerisch) zu bezeichnende deutsche Haltung vor dem 24. Februar auf dem literarischen Tablett serviert bekommen möchte, der lese dieses Dramaintermezzo. Bevor sich nämlich der „vorletzte Diktator der östlichen Partnerschaft“ und die „Meister des demokratischen Dialogs“ in einem Hotel zum Gespräch treffen, kursiert ein Papier, in dem die hervorragenden, wertebasierten westöstlichen Beziehungen hervorgehoben werden: „Fundamente unserer Koexistenz, bla-bla-bla …für Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wachstum, für den ungestörten Fluss von Waren und Kapital, den garantierten Transit von Energieträgern …“

In einem eingeflochtenen Drama treibt Andruchowytsch das Ganze auf die Spitze, darin schimmert sein trotz aller Wut und Trauer nie versiegender Humor durch

Der Mollton, den dieser Roman (auch) setzt, klingt gegenwärtig wie ein tiefer Stoßseufzer angesichts der tragischen Situation in vielen Teilen Osteuropas. Liest man die Passagen über die nächtlichen Radiosendungen, hört man den fantastischen Soundtrack dazu (unter anderem mit Tom Waits, Soap & Skin, Klaus Nomi), wird diese Tragik lebendig. Einzig infrage zu stellen ist, ob die Themenpalette des Romans nicht zu breit ist, denn auch die Pandemie, der Klimawandel und MeToo werden stellenweise verhandelt. Das wirkt überstrapaziert und konstruiert.

Für Josip Rotsky, der irgendwo dort draußen in seinem Studio hockt, ist die Nacht die Zeit der melancholischen Töne. Eine Zeit der Weltflucht, der Einkehr, der Selbstvergewisserung. Im Land Juri Andruchowytschs ist die Nacht die Zeit, in der jederzeit die Bomben fallen können.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!