Neuer Roman von Julia Wolf: In der Kindheit hängen geblieben
Julia Wolf erzählt von Neunzigjährigen, pensionierten Krankenschwestern und Frauen mit Alkoholproblemen. „Alte Mädchen“ heißt ihr neuer Roman.
„Wie läuft das Kind nur herum“, ging es der Erzählerin durch den Kopf. „Wir wollen das Kind flicken und kämmen, sofort. Doch man zischt uns nur an. Wir sollen es lassen, das Mädchen. Gefälligst. Die Enkelin will hässlich sein, mit zottligen Haaren und diesen rußigen Augen – Sie hat russische Augen? Nein, Gott bewahre, der Russe kommt mir nicht ins Haus.“
Entsetzt sagt die Enkelin: „Was heißt hier DER Russe.“ – Und heute? „Heute ist sie ganz anders. Eine erwachsene Frau, selbst schon Mutter. Ihr habt sie doch gesehen! Bisschen müde, aber eigentlich recht freundlich.“
Das „Wir“ der Erzählerin in Julia Wolfs neuem Roman „Alte Mädchen“, das sind drei alte Damen. Sie leben im Altenheim – nein, in einer „Residenz“ – und sind schon über neunzig. Frühmorgens schleichen sie sich an der noch unbesetzten Rezeption vorbei und setzen sich auf die Bank am Eingang. Dann wird beobachtet und kommentiert und erinnert. Ein Stream of Conciousness, manchmal ein bisschen wirr, aber oft sehr genau. Auf jeden Fall eigensinnig.
Es gibt nicht viele Romane in der deutschen Gegenwartsliteratur, die im Altenheim spielen. Dabei ist der „Ruhesitz“, vor dessen Hintergrund der Strom der Kommentare, Erinnerungen und Lebensweisheiten der drei Frauen verläuft, auch jenseits des Klischees von Hundertjährigen auf der Flucht eine Quelle von Geschichten.
Julia Wolf: „Alte Mädchen“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2022, 288 Seiten, 24 Euro
Dass Alte uninteressant sind, ist wohl eher eine Folge des Kapitalismus, in der nur das als interessant gilt, was verwertet werden kann, und das sind arbeitende junge Menschen, die auf die Frage „Was machst du?“ mit einer Berufsbezeichnung antworten können.
Verzweifelt Richtung Polen
Der zweite Teil von „Alte Mädchen“ ist eine Road-Story. Die pensionierte Krankenschwester Gudrun rast mit ihrer Schwester Gerlinde und Ola, die ihre Mutter bis zu deren Tod gepflegt hat, auf der Autobahn in Richtung Osten. Denn Ola will nach Polen, nach Hause. Immer wieder versucht Gudrun verzweifelt ihre Nichte Tini zu erreichen.
Aber die meldet sich nicht, und darin besteht das Problem. Denn weder Gerlinde noch Gudrun hatten gewusst, dass ihre Mutter testamentarisch nicht ihnen, sondern ihrer Enkelin das Haus vererben würde. Die aber will wegen der Nazi-Vergangenheit des Großvaters und der Großmutter nichts mehr mit der Familie zu tun haben und arbeitet in einem sozialen Projekt in Kambodscha.
Wenn Tini aber das Erbe nicht antritt, kann das Haus nicht verkauft werden und Ola nicht den ihr versprochenen Lohn erhalten. Also bespricht Gudrun stundenlang Tinis Mailbox, um sie dazu zu bringen, sich zu melden. Und versucht dazu, ihr – und damit auch dem Leser – die Familiengeschichte verständlich zu machen.
Auch im dritten und letzten Teil von „Alte Mädchen“ wechselt Julia Wolf das Personal. Jenny hat ihre alten Freundinnen Thao und Undine zu sich nach Hause eingeladen. Sie lebt allein und erwartet ein Kind. Außerdem kommt außerplanmäßig noch Kay dazu, die Tochter von Jennys großer, unglücklicher Liebe.
Wie im richtigen Leben
Die drei Frauen und das Mädchen sind so unterschiedlich wie ihre Perspektiven. Thao ist schon immer sehr ehrgeizig gewesen und inzwischen erfolgreiche Anwältin. Weil sie einen so strengen Eindruck macht, nennt sie Kay für sich die „Kommissarin“. Undine jobbt sich mit Kneipenjobs durchs Leben, kann gut mit Kindern umgehen, hat aber ein Alkoholproblem. Und Jenny bekommt zwar ein Kind, hat aber keinen Partner/Partnerin.
Es ist nicht ganz einfach, den Überblick über die wechselnden Perspektiven von „Alte Mädchen“ zu behalten. Trotzdem gelingt es Julia Wolf, jede ihrer Frauenfiguren auf eine ganz eigene Art zu gestalten. Manchmal überrascht sie den Leser, weil ihre Figuren – wie im richtigen Leben – anders reagieren, als man denkt. Beides macht dann auch die in allen drei Teilen mehr oder minder gleich bleibende sprachliche Form wieder wett.
Am Ende, im Rückblick auf das Buch, wird klar, weshalb Julia Wolf den Titel „Alte Mädchen“ gewählt hat. Von den Neunzigjährigen im ersten Teil über die beiden Schwestern auf dem Weg nach Polen bis zu den jüngeren Freundinnen im letzten Teil sind alle Frauen auf die eine oder andere Weise in ihrer Kindheit hängen geblieben. Alte Mädchen eben, denen es – gerade wenn es darauf ankommt – nicht gelingt, diese Rolle abzulegen. Deshalb scheitern sie.
Gleichzeitig schildert Wolf, wie sie versuchen, sich selbst zu behaupten und mit viel Energie aus der Grube, in die sie gefallen sind, herauszuarbeiten. Das alles zusammen macht „Alte Mädchen“ zu einem lesenswerten Buch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland