Neuer Roman von Juli Zeh: Nackensteaks satt in Bracken
Juli Zeh findet trotz Corona das schroffe wahre Leben auf dem Lande. Und betreibt im Roman „Über Menschen“ emotionale Lesererpressung.
Er heißt Gottfried, genannt Gote. Zur Begrüßung über den mannshohen Gartenzaun hinweg stellt er sich mit dem forschen Satz vor: „Angenehm. Ich bin hier der Dorf-Nazi.“ Wie nah kann man dieser literarischen Figur kommen? Was muss man als Autorin literarisch auffahren, an welchen dramaturgischen Schrauben muss man drehen, damit sie einem nahekommen kann? Das sind einige der Fragen, die sich Juli Zeh beim Schreiben ihres neuen Romans „Über Menschen“ offensichtlich gestellt hat.
Gote ist der Nachbar, auf den Dora, die stets über sich und ihr Leben grübelnde Protagonistin des Romans, trifft, als sie sich im fiktiven Ort Bracken im Brandenburgischen ein Haus kauft, um vor ihrer Beziehung mit Robert, aber auch um aus der Stadt und vor Corona zu fliehen.
Bracken: ein paar Häuser, ein Feuerwehrhaus, eine Bushaltestelle, der nächste Supermarkt ist 18 Kilometer entfernt. Gote: rasierter Schädel, schroffes Benehmen. Juli Zeh spielt damit, dass man beim Lesen sofort glaubt, dass solche Begegnungen tatsächlich stattfinden, da draußen in der Pampa, wenn eine Städterin wie diese Dora, in der Gartenarbeit so unerfahren wie im Dorfleben, aufs Land zieht.
Im stadtfernen Leben jenseits von Berlin kennt Juli Zeh sich gut aus. Das weiß man spätestens seit ihrem großen Roman „Unterleuten“, der genau wie jetzt dieses Bracken in einem fiktiven, aber in der Realität gut verankerten Provinzort spielt. Auch in ihrem neuen Roman lässt Juli Zeh dieses Wissen immer wieder aufblitzen.
Menschen beim Normal-Sein zusehen
Die getragene Art zu sprechen, die fundamentale Bedeutung, die hier Autos haben, die wie von den medialen Diskursen abgekoppelte Körperlichkeit der Menschen – das alles gehört zu den Versatzstücken im literarischen Spiel, das Juli Zeh in ihrem neuen Buch betreibt.
Juli Zeh: „Über Menschen“. Luchterhand Verlag, München 2021, 416 Seiten, 22 Euro
Es gibt Szenen, die einen denken lassen, dass „Über Menschen“ ein guter Roman über das Ausmaß kultureller Fremdheit innerhalb Deutschlands hätte werden können. Der Clash of Civilizations existiert tatsächlich, heißt es einmal. „Nur nicht zwischen Morgen- und Abendland. Sondern zwischen Berlin und Bracken.“
Juli Zeh schafft es, dass man als Leser an dieser Stelle unwillkürlich nickt. Aber im Kern geht es ihr um etwas anderes. Sie will keineswegs die Fremdheit der Provinz beschreiben, und sie will auch nicht auf die wechselseitigen Projektionen von Städtern und Landbewohnern aufmerksam machen, sondern sie will das Land- und Dorfleben als die eigentliche Normalität nahebringen. Und so lässt sie ihre Protagonistin beim Einkaufen denn auch erst mal „den Menschen beim Normal-Sein“ zuschauen, um sie sofort bemerken zu lassen: „Das tut gut.“
Man ahnt zunächst noch gar nicht, wie sehr sich Gote als emotionales Zentrum dieses Romans erweisen wird. Erst einmal diskreditiert Juli Zeh nämlich das Leben in der Stadt. Dazu kommt ihr die Coronapandemie gerade recht. Doras Ex-Beziehung Robert steigert sich vom journalistischen Klimaaktivisten hin zum Coronamaßnahmen-Übererfüller mit Missionsdrang; andere Meinungen oder Einschätzungen der Lage als seine eigene lässt er nicht mehr zu. Damit ist er nicht allein. Ganz Berlin dreht hier angesichts von Corona durch.
Mitmachen wurde übermächtig
Streckenweise liest sich das Buch wie ein Thesenroman über die Gefahr gleichgeschalteter Diskursgläubigkeit: „Das große Mitmachen wurde übermächtig.“ Doch der erzählerische Impuls zielt auf die Differenz von normal/nicht normal. Corona offenbart in diesem Roman nur, dass das Leben in der Stadt eben nicht normal ist, was in dem Buch, Dora ist Werbetexterin, auch die neue Arbeitswelt mit ihren Achtsamkeitsregeln und Kommunikationsgeboten umfasst.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Und Bracken? Juli Zeh hält einem einige inkorrekte Stöckchen hin, über die man sich aufregend springen kann, sogenannte ausländerfeindliche Witze vom Nachbarn, Grillabende mit Nackensteaks ohne Beilage satt. Daneben bringt sie einem aber auch die Dorfbewohner näher.
Da gibt es das selbstverständlich schwul lebende Paar, von denen der eine sogar antifaschistisches Politkabarett macht. Da ist die alleinerziehende Mutter Sadie, die nachts arbeitet und tagsüber auf die Kinder aufpasst, deren Leben „nur noch aus Übermüdung und Sorgen besteht“, was in Dora den Eindruck hervorruft, „als blickte sie auf die geheime Unterseite der Nation“.
Ganz Berlin dreht durch
In Berlin also: alle verrückt geworden. In Bracken: reale Menschen, mit ihren Freuden und Sorgen. Zudem stellt sich heraus, dass das Haus, das Dora gekauft hat, früher der Kindergarten des Ortes gewesen ist, mit dem Sadie und auch Gote sentimentale Erinnerungen verknüpfen. Gewachsene (wenn auch von der Politik vernachlässigte) Strukturen also im Gegensatz zum urbanen Leben von Projekt zu Projekt.
Auf dem Fundament dieser Gegensätze fährt Juli Zeh die Plot Points auf, die Dora letztlich zur Überzeugung kommen lassen, dass das wahre Leben auf dem Land stattfindet. Ein Mädchen kommt ins Spiel, Franzi, die Tochter des Nachbarn Gote. Sie verbringt, zunächst am Rande des Verwahrlosung, den Sommer bei ihrem Vater, die Mutter hat Gote verlassen und ist weggezogen. Wie es so ist: Zwischen Dora und diesem Mädchen entwickelt sich eine Beziehung – was gut passt, weil Dora so ihre eigenen komplizierten Kinderwünsche sowie ihr Verhältnis zu ihrer eigenen auch abwesenden, da früh verstorbenen Mutter nachspüren kann.
Und Gote? Bei ihm spielt ein Hirntumor eine Rolle – was dramaturgisch auch gut passt, weil erstens alle Menschen vor einem Glioblastom gleich sind und zweitens Doras Vater Hirnchirurg ist. Sowohl bei der Schilderung des Stadtlebens (dekantierter Rotwein in Charlottenburg, wokes Arbeitsleben in Doras Werbeagentur) als auch der „Existenzgemeinschaft“ des Landlebens (im Zweifel haben alle ein weites Herz, Rauchen ist überall erlaubt) können einem Klischees auffallen.
Am Reißbrett entworfen
Fast noch mehr stößt einem aber das gnadenlos Geplottete des wie am Reißbrett entworfenen Romans auf. Selbst Doras Hündin namens Jochen (kleiner Genderverwirrungswitz der Autorin) benimmt sich immer so, wie es die Dramaturgie gerade braucht: Sie bleibt erst naturskeptisch und freundet sich dann mit Franzi an.
Allmählich schält sich bei alledem heraus, was Dora und auch der Roman selbst an diesem Gote schließlich so faszinierend finden, trotz und allmählich jenseits der Nazifrage. Letztlich wird er wie ein von der Zivilisation unangekränkelter „Wilder“ beschrieben. Er wirkt körperlich, bis in den Geruch. Er verkriecht sich in einen Bauwagen, wenn er leidet, und will von dem Leiden aber gleich nichts mehr wissen, sondern das Leben genießen, wenn es ihm gut geht. Die Außenwirkung seiner Person ist ihm egal. Er schnitzt Wölfe aus Holz. Er hat „treuherzige“ Augen. Er lebt reflexionslos, vitalistisch nah am Leben, eine Existenz, der ihre eigene Identität nicht fragwürdig ist. Damit ist er genau das Gegenstück zur ständig grübelnden Dora.
Doch wie nah kommt man dieser Gote-Figur wirklich? Oder, ist Gote überhaupt eine Figur und nicht in Wirklichkeit nur eine reichlich dick aufgetragene Illustrierung von Doras Erkenntnis, dass man nie denken soll, selbst etwas Besseres als seine Mitmenschen zu sein? Juli Zeh tut in diesem Roman jedenfalls alles, um den „Ich bin hier der Dorf-Nazi“-Satz von der Begrüßung zu relativieren. Gotes schwere Kindheit wird noch eingebaut. Und eine, wie sich herausstellt, zu Unrecht erfolgte Verurteilung wegen versuchten Totschlags an einem linken Paar auch.
Würde und Eigensinn
Je länger man in dem Buch liest, desto erstaunter ist man darüber, was Juli Zeh alles bereit ist aufzufahren, um dem Nachbarn Gote Würde und Eigensinn zu geben, ihn bei aller Schroffheit zur Verkörperung der Existenzverbundenheit auf dem Lande zu machen und die Frage, ob er nun ein Nazi ist oder nicht, mindestens uninteressant, wenn nicht sogar falsch erscheinen zu lassen. Die Wendungen, die der Roman dazu nimmt, grenzen an emotionale Lesererpressung. „Über Menschen“ ist ein Rührstück.
Und das wirkt auf das Ganze der Erzählung vom Gegensatz von Stadt und Land zurück. Es geht in diesem Roman alles viel zu gut auf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau