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Neuer Roman von Juli ZehDa stinkt doch was in Unterleuten

In ihrem Roman „Unterleuten“ entwirft Juli Zeh eine dörfliche Gesellschaftsstruktur, die in Schieflage gerät, als ein Windpark gebaut werden soll.

In Zehs Dorf-Roman unterhält der Nachbar an seiner Grundstücksgrenze ein beständig glimmendes Feuer aus Autoreifen. Foto: imago/Westend61

Schwer zu entscheiden, ob diese Art von Roman nun eigentlich menschenfreundlich ist oder eher das Gegenteil davon. Sicher ist nur, dass bei Juli Zehs bislang dickleibigstem Buch der Titel das Programm markiert. Wenn die Autorin das brandenburgische Kaff, in dem die Handlung angesiedelt ist, „Unterleuten“ genannt hat, so ist das ein Zaunpfahlhinweis auf das komplexe soziale Geflecht, aus dem das Leben auf dem Dorfe besteht. Dieses gründlich aufzudröseln ist auch das eigentliche Thema, angesichts dessen die Intrige, um die herum die Romanhandlung angelegt ist, zu einer gewissen Bedeutungslosigkeit verblasst.

Mit scharfem Blick fürs Wesentliche führt die Autorin nach und nach ein soziales Panoptikum ein, das auf den ersten Blick schön bunt aussieht, doch eine klare Ordnung aufweist. Ebenso klar ist von Anfang an, dass irgend etwas nicht stimmt in Unterleuten.

Es stinkt. Und das auch wortwörtlich, nämlich auf dem Grundstück des Ehepaars Jule und Gerhard Fließ, er ehemaliger Soziologiedozent, jetzt bei der Vogelschutzwarte beschäftigt, sie seine ehemalige Studentin und 20 Jahre jüngere Gattin, der stets das gemeinsame Baby vor der Brust klebt. Dass ihr Nachbar, ein grobschlächtiger Schrauber, an seiner Grundstücksgrenze ein beständig glimmendes Feuer aus Autoreifen unterhält, welches das Grundstück der Familie verpestet, ist ein Teil des Unterleutener Machtgefüges – ein Umstand, den Jule und Gerhard nie wirklich durchschauen werden; anders als eine andere Zugezogene, die junge Linda, die als Pferdeflüsterin gutes Geld verdient, Rassepferde züchten will und für den Bau eines Stalls mit Koppel sowohl eine Baugenehmigung als auch eine Grundstückserweiterung braucht.

Während Gerhard, der Soziologe, der gesellschaftlichen Realität in keiner Weise gewachsen ist, reißt Linda, die ein machiavellistisches Managementhandbuch gelesen hat, umstandslos eine Hauptrolle in der Dorfintrige an sich. Die kommt ins Rollen, als der Vertreter einer Windkraftgesellschaft Pläne zur Errichtung eines Windparks auf Unterleutener Boden vorstellt.

Vielleicht geht‘s nicht immer klischeefrei

Der Hauptprofiteur dieser Pläne, das scheint den Dörflern klar, würde Gombrowski sein, der örtliche Großgrundbesitzer, der die ehemalige LPG in einen großen Bio-Betrieb umgewandelt hat. Er hat einen einflussreichen Widersacher im Ort: den alten Kron, einen einst glühenden Kommunisten, der schon in Vor-LPG-Zeiten gegen den Grundbesitz der Gombrowkis agitierte. Andere wichtige Akteure sind Krons tüchtige Tochter Kathrin, der biedere Bürgermeister Arne und natürlich der unvermeidliche aalglatte Investor aus dem Westen.

Die Hauptsache ist Juli Zeh auf jeden Fall gelungen: Das Panoptikum lebt. Ja, es sind charakteristische Typen, die sie für ihre Dorfgesellschaft entwirft, und ja, vielleicht geht das nicht immer völlig klischeefrei ab. Aber mitunter sind Klischees, klug eingesetzt, hilfreiche Verallgemeinerungen typischer Eigenschaften. Ausschlaggebend ist, dass die Unterleutener Typen ein glaubhaftes Eigenleben entwickeln.

Zeh wechselt für jedes Kapitel die Erzählperspektive, so dass alle Hauptakteure mit ihrer Sicht auf das Geschehen zum Zuge kommen. So entsteht eine abwechslungs- und beziehungsreiche Erzähllandschaft, die, je nachdem, aus welchem Winkel sie betrachtet wird, immer wieder neue Gestalt annimmt. Der chronologische Gang der Dinge tut das Seine, um dieser Landschaft eine zunehmend dramatische Anmutung zu geben.

Die bloße Möglichkeit des zukünftigen Vorhandenseins von Windrädern löst im Dorf eine Flut von Begehrlichkeiten und Widerständen aus. Das soziale Gefüge gerät ins Wanken. Als auch noch ein Kind verschwindet, dramatisiert sich die Lage bis an die Grenze zur Unbeherrschbarkeit. Dabei kommen verborgene Schichten von Dorfgeschichte ans Licht, über die man stillschweigend Gras hatte wachsen lassen.

Als würde man eine komplizierte Gleichung lösen

Das alles ist fesselnd und gut erzählt. Es werden dabei gleichsam im Vorbeigehen Fragen von Schuld und Sühne aufgeworfen und zur allgemeinen Betrachtung liegen gelassen. Am Ende bleibt noch genug Unausgesprochenes übrig, um dem Leser zu vermitteln, die einzige aller irgendwie beteiligten Personen zu sein, die vielleicht in der Lage ist, zu durchschauen, was wirklich passierte.

Und trotzdem bleibt man am Ende mit einem Gefühl sitzen, das, anders als bei wirklich großen Romanen, nicht dem ähnelt, das man beispielsweise hat, wenn man einen hohen Berg erwandert und vom Gipfel aus das ganze große Landschaftspanorama weit ausgebreitet unter sich liegen sieht. Eher ist es ein bisschen so, als hätte man unter Anleitung einer klugen Lehrerin eine komplizierte Gleichung mit vielen Unbekannten richtig gelöst. Das kann zwar auch schön sein. Aber die Welt sieht danach noch genauso aus wie vorher. Und wozu ist es am Ende gut gewesen?

Buch „Unterleuten“

Juli Zeh: „Unterleuten“. Luchterhand, München 2016, 640 Seiten, 24,99 Euro.

Windräder, Vogelschutz, Bio-Landwirtschaft – Juli Zeh nutzt diese brandenburgischen Kernbegriffe, um ihren Roman mit einer real wirkenden Kulisse zu versehen. Das macht sie sehr glaubhaft. Wir können uns das real existierende Brandenburg so vorstellen, wie es hier entworfen wird. Aber wir könnten uns ebenso gut denken, dass Unterleuten ganz woanders liegt. Windkraft ja oder nein, Großflächenbewirtschaftung ja oder nein, Landleben versus Stadtleben, oder auch: Sind Frauen die besseren Männer? – all diese Reizthemen werden im Roman angerissen, aber nicht als echte Zeitfragen behandelt, sondern lediglich benutzt, um die Handlung zu befeuern und zu kolorieren.

Das ist schon ein wenig enttäuschend; jedenfalls dann, wenn man eine Grunderwartung an die Literatur als großes Sinnstiftungs- oder zumindest Problemumkreisungsmedium erlernt hat, die hier nur angefüttert wird, dann aber ins Leere laufen muss. Wenn man allerdings von der Literatur nicht mehr erwartet, als dass sie die Welt und ihre Menschen auf unterhaltsame und intelligente Weise genau so darstelle, wie man selbst sie sich auch schon immer vorgestellt hat, dann ist „Unterleuten“ auf jeden Fall ein sehr gelungener Roman.

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2 Kommentare

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  • Das Buch mag seine Berechtigung haben. Der klassische Roman stellt aber eigentlich ein Individuum und seine Konflikte mit der Welt in den Vordergrund und erschöpft sich nicht in einer Art Gesellschaftssatire. Das scheint keiner zu sehen und das Buch wird infolgedessen auch maßlos überschätzt. Es ist letztlich schiere Unterhaltungslektüre. Wie kommt es eigentlich, dass das Buch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk so unverhältnismäßig und unerträglich gepusht wird? Ist der Vorrat an guter Literatur erschöpft? Mehrfach täglich bekommt man es zB bei NDR Kultur um die Ohren gehauen. Ein Armutszeugnis.

  • Wenn man erst mal kapiert hat, dass man seine "Grunderwartung an die Literatur als großes Sinnstiftungs- oder zumindest Problemumkreisungsmedium erlernt hat", kann man sie auch hinterfragen, denke ich. Sollte Juli Zehs Roman dazu anregen, indem er erlernte Erwartung unerfüllt "ins Leere laufen" lässt, hätte die Autorin viel erreicht.

     

    Leider ist solch ein Erfolg nicht gut herauszulesen aus Katharina Granzins Text. Die Verfasserin liefert vielmehr die Auflösung der (Un-)Gleichung sofort mit, und zwar ebenso unhinterfragt: Man kann von Literatur auch einfach nur erwarten, weiß sie (vermutlich hat sie ja auch das mal irgendwann gelernt), dass sie "die Welt und ihre Menschen auf unterhaltsame und intelligente Weise genau so darstelle, wie man selbst sie sich auch schon immer vorgestellt hat".

     

    Da, bitte, liebeR LeserIn, nun such Dir etwas aus. Da ist nicht eine einzige Unbekannte mehr in "Juli Zehs bislang dickleibigstem Buch". Nur zwei verschiedene Lösungen, die längst schon millionenfach praktiziert und nicht bezweifelt werden. Was bleibt, ist "ein sehr gelungener Roman". Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

     

    Die simple Gleichung 1 Schriftstellerin + 1 Buch + 1 Leserin = ein Aha-Effekt geht wieder mal nicht auf. Das muss nicht unbedingt am Buch liegen.