Neuer Regierungschef in Frankreich: Kandidat des geringsten Widerstandes
Mit Michel Barnier macht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen 73-jährigen konservativen Pro-Europäer zum neuen Premier.
Der 73-jährige Barnier ist in Europa vor allem als ehemaliger EU-Kommissar bekannt. Erstmals 1999 gehörte er der Kommission an, zuletzt hatte er von 2019 bis 2021 die heikle Aufgabe, als EU-Chefunterhändler mit Großbritannien ein Abkommen über die Beziehungen nach dem Brexit zu schließen. Immer mal wieder wurde er auch als möglicher Kommissionschef gehandelt.
Er hat aber vor allem auch eine lange innenpolitische Erfahrung. Er war Abgeordneter, Senator und Vorsitzender des Departements Savoyen, mehrfacher Minister und auch früher schon gelegentlich im Gespräch als möglicher Regierungschef. 2021 bewarb er sich ohne Erfolg um die Präsidentschaftskandidatur der konservativen Rechten für 2022. Er hatte sich bei dieser Gelegenheit für eine härtere Sicherheitspolitik und Migrationskontrolle ausgesprochen.
Barnier gehört zur politischen Familie der Gaullisten, er war Mitglied der Parteien der Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy und zuletzt der konservativen Partei Les Républicains (LR), die bei den letzten Wahlen am 7. Juli nur noch 47 Sitze erringen konnte. Dass also letztlich die kleine LR-Fraktion, die bisher in der Opposition war, die Regierungsführung übernimmt, ist überraschend. Die einzige plausible Erklärung dafür ist, dass Macron nach zahlreichen Treffen und Konsultationen der Meinung war, dass Barnier am wenigsten frontalen Widerstand der politischen Parteien im Parlament zu gewärtigen hätte.
Vorsichtiges Wohlwollen von rechts
Andere als Favoriten gehandelte Politiker von links oder rechts, namentlich der ehemalige sozialistische Innen- und Premierminister Bernard Cazeneuve doder der konservative Vorsitzende der Region Nord, Xavier Bertrand, stießen auf grundsätzliche Ablehnung. Marine Le Pen vom rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) versicherte, ihre Fraktion werde jeden linken Premier oder auch Bertrand zu Fall bringen.
Auf die Frage, ob Barnier genauso boykottiert werde, zeigte sich Le Pen sichtlich versöhnlicher. Ihre Partei werde Barnier aufgrund der künftigen Regierungszusammensetzung und seiner Antrittsrede beurteilen. Auf besondere Rücksicht der Rechtsextremen kann er dennoch nicht hoffen.
Als Barnier am Donnerstag noch bloß als eventueller Kandidat im Gespräch war, hatte ihn der RN-Abgeordnete Jean-Philippe Tanguy (wegen seines Alters) als „Fossil“ der französischen Politik bezechnet und gespottet, Macron suche seine Leute im „Jurassic Park“. Die Zeitung Le Journal du Dimanche hat ihm den Übernamen „Frankreichs Joe Biden“ gegeben. Auf sein Alter angesprochen hatte Barnier vor allem auf seine Erfahrung verwiesen und gesagt, es gebe junge Leute mit uralten Ideen und ältere mit neuen.
Für die vereinte Linke der Neuen Volksfront (NFP) ist seine Nominierung ein Affront. Die NFP betrachtet sich immer noch als Siegerin der Parlamentswahlen vom 7. Juli und hatte darum den Anspruch des Postens für ihre gemeinsame Kandidatin Lucie Castets erhoben. Für Macron aber kam weder Castets noch sonst eine Persönlichkeit aus den Reihen der linken Wahlunion als Premierminister(in) infrage.
Macron möchte ganz offensichtlich trotz seiner klaren Wahlniederlage seine Politik fortsetzen. Eine so genannte Kohabitation mit einem politischen Gegner als Regierungschef hatte Macron sogleich ausgeschlossen. Er hofft nun, dass Barnier ein ihm genehmes Ministerkabinett bilden und so rasch wie möglich den Entwurf für den Staatshaushalt 2025, den noch die Vorgängerregierung von Gabriel Attal nach ihrem Rücktritt vorbereitet hat, als politische Weichenstellung durchsetzen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül