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Neuer Erinnerungsort in BerlinWeiche in die Vernichtung

Durch den Möckernkiez führten Gleise in das Konzentrationslager Theresienstadt. Eingeweiht hat dort nun eine Anwohnerinitative ein Mahnmal

Die Einweihung des Erinnerungsortes Gleis 1 im Möckernkiez. Im Bild der auf dem Gelände gefundene Weichenblock Foto: Stefan Boness/Ipon

Berlin taz | Der Möckernkiez ist ein Wohnquartier am Rand des Gleisdreieck-Parks in Kreuzberg. Eine Genossenschaft ermöglicht hier, so der eigene Anspruch, „selbstverwaltetes, soziales und ökologisches Wohnen.“ Und das direkt an einem Erholungspark, besser geht es in Kreuzberg kaum.

Das Quartier, das vor drei Jahren fertiggestellt wurde, befindet sich aber auf einem Gelände, das eng mit dem düstersten Kapitel der deutschen Geschichte verbunden ist. Hier befanden sich die Gleise, die vom Anhalter Bahnhof abgingen und über Dresden nach Prag und schließlich in das Konzentrationslager Theresienstadt führten. Die Spuren im Park sind immer noch zu finden.

Vom Gleis 1 des Anhalter Bahnhofs gingen die Züge in den Jahren 1942 bis 1945 ab. 10.000 Juden und Jüdinnen wurden dort in Zugwaggons der dritten Klasse zu einer Reise getrieben, die für sie der Tod bedeutete und die sie auch noch selbst bezahlen mussten.

Am Samstag wurde nun am Yorckplatz, der direkt an den Möckernkiez grenzt, eine Erinnerungsstätte, der „Erinnerungsort Gleis 1“ mit einem kleinen Festakt eingeweiht. Nicht nur an die Folgen des Antisemitismus im Nationalsozialismus will Nachbarschaftsinitiative erinnern. Auf einer Tafel wird erklärt, was an diesem Ort passiert ist. Daneben steht ein rostiger Umleger, auch Weichenbock genannt. Er wurde auf dem Gelände gefunden, das nun der Genossenschaft gehört.

Metallklotz mit Symbolkraft

Der schlichte Metallklotz entfaltet eine Symbolkraft, wie es einem noch so aufwendig künstlerisch gestalteten Denkmal nur schwer gelungen würde. Dieser historische Umleger, hergestellt im Jahr 1927, legte die Weichen direkt in die Vernichtung, das ist die Aussage.

An einer Stelle auf dem Weichenbock befindet sich ein roter Fleck. Der sei aber keine künstlerische Intervention, meint einer von der Arbeitsgruppe, die den Erinnerungsort am Yorckplatz geplant hat. Das Rot, bei dem man automatisch an Blut denken muss, habe sich genau so auf dem Umleger befunden, als er entdeckt wurde.

Vor fünfeinhalb Jahren hätten sich Bewohner und Bewohnerinnern des Möckernkiezes und andere zu der Arbeitsgruppe zusammengeschlossen und mit den Recherchen begonnen, sagt Norbert Peters, Mitglied der AG zur taz. Man habe genauer wissen wollen, was früher in ihrer direkten Wohnumgebung, die heute so angenehm ist, vor sich ging.

Peters hält am Samstag auch die öffentliche Rede. Den Juden und Jüdinnen sei erzählt worden, sie würden an einem anderen Ort eine Art „betreutes Wohnen“ erwarten, berichtet er. „Hitler hat den Juden eine Stadt gebaut“, sei ihnen gesagt worden. In Wahrheit habe die durchschnittliche Lebenszeit in Theresienstadt gerade mal 100 Tage betragen. Für viele sei es gleich weiter in das Vernichtungslager Auschwitz gegangen, dem Inbegriff der Vernichtung jüdischen Lebens schlechthin. Auch Gäste, die nicht zu der Genossenschaft gehören sind zu der Einweihung gekommen.

Mit dem Erinnerungsort allein sei für ihn und die anderen in der AG die Aufarbeitung aber nicht abgeschlossen, so Peter zur taz. Es werde weitere Veranstaltungen geben, zum Beispiel Lesungen im Gemeinschaftsraum der Wohngenossenschaft. Und auf einer Homepage würden fortlaufend historische Fakten rund um den Anhalter Bahnhof und das einstige Gleis 1 zusammengetragen.

In seiner Rede betont Peter, bei dieser Erinnerungsarbeit gehe es nicht nur darum, was der grenzenlose Antisemitismus der Nazis angerichtet hat, sondern auch darum, zu zeigen, dass gegenwärtiger Antisemitismus niemals hinnehmbar sei.

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