Neue TTIP-Verhandlungsrunde: Das Ratsgeheimnis
Die aktuellen Verhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP sind Verschlusssache – sogar für die meisten Abgeordneten. Warum eigentlich?
BRÜSSEL taz | Drei Jahre hatten die EU und Kanada über ihr neues Freihandelsabkommen Ceta verhandelt, doch längst nicht überall waren sie sich einig geworden. Die Streitpunkte fasste die EU-Kommission am 6. November 2012 auf 13 Seiten zusammen: Was wollen wir? Was wollen die Kanadier? Und welcher Kompromiss wäre für uns gerade noch akzeptabel?
„Landing Zones“ heißen solche möglichen Einigungskorridore im Fachjargon. Das als geheim eingestufte Papier war für die Mitglieder des Handelsausschusses im EU-Parlament bestimmt. Doch drei Tage später stand ein etwas verwaschener Scan des Dokuments auf der Webseite der Zeitung La Presse aus Montreal. „Ein Albtraum“, so ein EU-Diplomat, der mit den Verhandlungen befasst war. „Die Kanadier wussten genau, wo für uns die Schmerzgrenzen lagen.“
Zum Beispiel ging es um die Frage, wie sehr die Einfuhrzölle für Autos wechselseitig gesenkt werden. Europäische Hersteller nutzen vergleichsweise wenige importierte Teile, kanadische Hersteller eher mehr. Kanada wollte deshalb auch Autos zollfrei in die EU exportieren dürfen, die nicht mal zur Hälfte aus kanadischen Teilen bestehen.
Die EU wiederum wollte 55 Prozent festschreiben – das hätte die eigene Industrie begünstigt, die kanadische hingegen benachteiligt. Eine Quote könne sie sich aber vorstellen, schrieb die Kommission in dem geleakten Papier. Das mittlerweile ausverhandelte Ceta-Abkommen sieht nun vor, dass Kanada jährlich 100.000 Autos in die EU exportieren darf, in denen überwiegend ausländische Teile verbaut sind. Die Kanadier haben sich also durchgesetzt, die EU möglicherweise Zolleinnahmen verloren.
Geheimniskrämerei von Anfang an
Mit dieser Geschichte begründen Brüsseler Diplomaten, warum die ab heute in Washington weitergehenden Verhandlungen über die Errichtung der größten Freihandelszone der Welt ablaufen, als ginge es dort um Militärgeheimnisse: „Aus taktischen Gründen“, sagen sie. Um sich „Verhandlungsmasse offenzuhalten“ bei dem Geschacher um den Abbau von Zöllen.
Ab Montag treffen sich in Washington Vertreter der EU und der USA zum neunten Mal, um über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zu verhandeln.
Zweck des Abkommens ist der Abbau von Zöllen sowie die Errichtung einheitlicher Standards, etwa bei der Zulassung von Medikamenten, Elektrogeräten, Chemikalien oder Autos und beim Lebensmittelrecht. Dadurch soll die Wirtschaft schneller wachsen.
Durch TTIP entstünde der größte Wirtschaftsraum der Erde mit fast einer Milliarde Konsumenten.
Kritiker fürchten eine Ausweitung der Konzernmacht, unter anderem durch die Schiedsgerichte für den Investitionsschutz. Die EU hält weite Teile der Verhandlungen geheim. (cja)
Die Geheimniskrämerei um TTIP galt von Beginn an: Nicht einmal das Verhandlungsmandat, also den Auftrag an ihre Unterhändler, mochte die EU bekannt machen. Erst im Oktober 2014, die Verhandlungen liefen da schon 16 Monate, veröffentlichte sie das Dokument. Das hätte früher geschehen müssen, heißt es heute dazu bei der EU-Kommission, die die Verantwortung dafür aber dem Europäischen Rat zuschiebt.
Durchsetzen konnte dieser die Geheimhaltung nicht: Im März 2014 stellten die Grünen-Politiker Sven Giegold, Rebecca Harms und Ska Keller den Mandatstext ins Internet. „Der Schutz der Demokratie wiegt für mich schwerer als das Interesse der Kommission an ungestörten und verschwiegenen Hinterzimmerverhandlungen“, sagte Giegold.
Strafbar ist derlei Geheimnisverrat für Abgeordnete nicht. Im November trat die Schwedin Cecilia Malmström ihr Amt als Handelskommissarin an. Sie gelobte mehr Transparenz und will gar ihre gesamte Korrespondenz zu TTIP ins Netz stellen. Doch zugleich versucht die Kommission fast alles, um die entscheidenden TTIP-Dokumente geheim zu halten. Das betrifft zwei Sorten von Texten: Jene, in denen es um Marktzugänge, also Zollerleichterungen geht – wie im Autobeispiel –, und sämtliche Vorschläge für den Vertragstext von amerikanischer Seite. „Die wollen nicht, dass wir das weitergeben“, heißt es bei der Kommission.
Spezielle Leseräume in Brüssel
Es möge sein, dass die USA auf Diskretion drängen, sagt der Grüne Giegold. Trotzdem spricht er von einer „fast antiamerikanischen Rechtfertigungslinie“ angesichts der auch sonst dürftigen Transparenzneigung der EU. „Die verhandelt gleichzeitig noch etwa zwanzig andere Handelsabkommen, das Mandat veröffentlicht hat sie aber nur bei TTIP und Tisa – und das auch erst, nachdem ich geleakt habe.“
Knapp die Hälfte aller TTIP-Dokumente jedenfalls fallen in eine der beiden Kategorien und sind als Verschlusssache eingestuft. Per Mail werden sie nicht verschickt. Der EU ist kein gangbarer Weg der elektronischen Kommunikation dafür sicher genug. Nur die Mitglieder der sogenannten Monitoring Group, im Wesentlichen die Vorsitzenden der zuständigen Ausschüsse des EU-Parlaments, bekommen Ausdrucke – mit individuellen Wasserzeichen, damit mögliche Leaks zurückverfolgt werden können. Die einfachen Mitglieder der Ausschüsse müssen in einen von zwei speziell gesicherten Leseräumen kommen – einer befindet sich im Gebäude der EU-Kommission, einer im Parlament.
Alle übrigen Abgeordneten dürfen die Dokumente nicht einsehen. Eine Ausnahme bilden die Vorsitzenden der übrigen Ausschüsse – sie dürfen Teile des Vertragsentwurfs dann einsehen, wenn sie ihre unmittelbare Fachzuständigkeit betreffen. Es sei „unmöglich“, klagt die grüne EU-Abgeordnete Helga Trüpel, sich auf diese Weise ein Bild über die Verhandlungen zu verschaffen. Um mehr ginge es ohnehin nicht: Eine Vetomöglichkeit während der laufenden Verhandlungen ist nicht vorgesehen.
Dubiose Schiedsgerichte
Auch den Regierungen der Mitgliedstaaten traut die EU-Kommission in der Frage nicht: Will die Bundesregierung wissen, wie die Verhandlungen voranschreiten, muss ein Vertreter der Abteilung Außenwirtschaftspolitik im Bundeswirtschaftsministerium in den Brüsseler Lesesaal reisen. „Ganz praktikabel ist das nicht“, sagt dazu ein Vertreter der Handelskommission. Nun sollen Leseräume in den US-Botschaften in den EU-Hauptstädten eingerichtet werden. Das würde den Vertretern des Bundeswirtschaftsministerium immerhin Reisen ersparen. Zufrieden ist man dort aber nicht. „Das kann nur ein Zwischenschritt sein“, heißt es aus dem Haus von Minister Sigmar Gabriel. „Erforderlich ist ein direkter Zugang zu den konsolidierten Verhandlungsdokumenten.“
Die Kommission aber fürchtet weitere Leaks und hält die Geheimhaltung für unverzichtbar. Würden Details über geplante Zollzugeständnisse vor Verhandlungsende bekannt, hätten nicht nur die USA einen Vorteil, auch die Lobbyisten der betroffenen Branchen würden sofort Sturm laufen.
Das Kampagnennetzwerk Campact warnt: „Ziel der Verhandlungselite ist es, die Verhandlungen geheim abzuschließen und den demokratisch gewählten Vertretungen der Bürger/innen dann nur noch die Wahl zwischen Zustimmung und Ablehnung zu lassen.“ Gleichzeitig werde Industrielobbyisten „exklusiver Zugang und die Möglichkeit, ihre Interessen direkt in den Vertrag zu diktieren“ gegeben. Campact verweist darauf, dass es von 2012 bis 2013 allein 119 Treffen zwischen Wirtschaftsvertretern und den TTIP-Verhandlern gegeben hat. Darunter waren Nokia, DaimlerChrysler oder die US-Versicherung MetLife. Mit den zivilgesellschaftlichen Gruppen trafen sich die Diplomaten nur elfmal.
Malmström hält an Schiedsgerichten fest
Auch Giegold mag dem Argument, die Verhandlungsstrategie schützen zu müssen, nicht folgen. „Es gibt den UN-Internet-Vertrag, der komplett öffentlich, vor einer Webcam, ausgehandelt wurde. Und ich habe nicht gehört, dass es da zu einer Übervorteilung gekommen wäre“, sagt er. Ohnehin sei es „drollig“ anzunehmen, dass ausgerechnet die USA sich die Dokumente nicht ohnehin mit Geheimdienstmethoden beschafften. „Nur die Öffentlichkeit bekommt nichts mit“, sagt er. Doch die habe bei Entscheidungen von solcher Tragweite einen Anspruch auf Transparenz. „Die EU verfährt nach dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel. Wenn am Ende Wachstum rauskommt, ist alles legitim“, sagt Giegold. Dann könne man ja gleich den gesamten Parlamentsbetrieb unter Geheimhaltung stellen.
Doch nicht nur weite Teile der Verhandlungen bei TTIP sind geheim. Teil des Abkommens sind die umstrittenen ISDS – die Abkürzung steht für Investor-State Dispute Settlement mechanism, zu Deutsch etwa Investor-Staat-Streitbeilegung. „Es gibt in begrenzten Fällen die Notwendigkeit, Unternehmen vor Enteignung und Diskriminierung zu schützen“, sagt Malmström.
Kritiker halten die bereits in vielen anderen bilateralen Verträgen enthaltenen Schiedsgerichte für Teufelszeug: eine Paralleljustiz, die den Konzernen erlaubt, Staaten ihre Politik zu diktieren. So oder so: Warum das Ganze stets unter Ausschluss der Öffentlichkeit abläuft, ist nicht einsichtig. Der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer kann sich das nur dadurch erklären, dass „bestimmte Leute ein bestimmtes Interesse daran haben, dass ein bestimmtes Verfahren so und nicht anders verläuft“. Malmström hält an den ISDS fest. „Wir arbeiten, um zu sehen, ob es eine reformierte Form geben kann“, sagt sie etwas umständlich. Die ISDS müssten „transparenter“ werden, auch das Verhältnis zu den nationalen Gerichten sei zu präzisieren. Eine Zusage, die Geheimhaltung aufzuheben, macht sie nicht.
Die niederländische Handelsministerin Lilianne Ploumen hat Anfang März vorgeschlagen, statt der Schiedsgerichte ein dauerhaftes, unabhängiges Handelsgericht bei der WTO zu schaffen. Eine „sehr gute Idee“, sagt Malmström, aber „das geht nicht von heute auf morgen“. Bis dahin soll es weiter die ISDS geben. Giegold fehlt dafür jedes Verständnis. „Natürlich soll es in internationalen Verhandlungen auch um Investorenschutz gehen. Aber warum akzeptiert man eine außerhalb ordentlicher Gerichte liegende Instanz, die Entscheidungen über Milliardenklagen fällt?“, fragt er.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen