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Neue Rüstungslieferungen an die UkraineLuftabwehr ja, Kampfflugzeuge nicht

Bernhard Clasen
Kommentar von Bernhard Clasen

Die geplante Rüstungslieferung an die Ukraine ist generell zu begrüßen. Langstreckenwaffen und Kampfflugzeuge sollten besser zu Hause bleiben.

Überreste eines von der Luftabwehr abgeschossenen russischen Marschflugkörpers in Kiew Foto: Valentyn Ogirenko/reuters

W enn man wie ich 25 Kilometer von der Linie entfernt lebt, wo der russische Angriff vor der Stadtgrenze von Kiew gestoppt wurde, wenn man den Klang von in der Luft vorbeiziehenden Flugkörpern, das Krachen ihrer Explosionen kennt, wenn man von ebendiesen Raketen zerstörte Wohnungen gesehen hat, kann man der ukrainischen Armee nur dankbar sein, dass sie Kyjiw verteidigt und ein weitgehend funktionierendes Luftabwehrsystem hat.

Doch Verteidigung war gestern. Heute wird in der Ukraine viel von Angriff gesprochen. Auf großen Plakattafeln wirbt eine „Garde des Angriffs“ um kampfbereite Männer und Frauen. Mit einer groß angelegten Offensive plant die Ukraine, von Russland eroberte und annektierte Ortschaften und Gebiete zurückzuerobern.

Wenn man, wie ich, zwischen Charkiw und der ukrainisch-russischen Grenze liegende Ortschaften, die erobert und zurückerobert, erobert und zurückerobert wurden, gesehen hat, fragt man sich, was die Menschen, die dort nicht mehr leben können, von diesen militärischen Erfolgen haben. Man fragt sich auch, warum immer mehr Waffen geliefert werden, während gleichzeitig andere Möglichkeiten, der Ukraine zu helfen, nicht ausgeschöpft wurden.

Warum schließen fast alle Anrainerstaaten der Ukraine ihre Märkte für landwirtschaftliche Produkte aus der Ukraine? Warum bereichert Deutschland den russischen Atomkonzern Rosatom? Dieser Konzern war am Überfall auf das größte Atomkraftwerk Europas, das AKW Saporischschja, beteiligt. Warum darf ebendieser Konzern in Lingen atomare Brennstäbe herstellen? Zur Erinnerung: Dieser Konzern ist auch an der Entwicklung neuer Atomwaffen beteiligt. Warum darf Rosatom mit der in Alzenau ansässigen Firma Nukem Technologies ungehindert Geschäfte machen? Mit jeder russischen Rakete, die in eine ukrainische Wohnung einschlägt, wächst der Hass der UkrainerInnen auf Russland und alle RussInnen.

Präsident Selenski hat versichert, dass man keine westlichen Waffen gegen Russland einsetzen wird. Die Stimmung auf ukrainischen Portalen ist jedoch eine andere. Der Politologe Wolodymyr Fessenko etwa redet in der gazeta.ua einer Ausweitung der Kriegs auf russisches Territorium das Wort: „Der Krieg kommt immer häufiger und greifbarer auf russisches Territorium. Und das ist die Rache für den Angriff auf die Ukraine, für den blutigen und schmutzigen Krieg Russlands gegen unser Volk. Es wird noch mehr kommen.“

Vor diesem Hintergrund ist die auch von Deutschland geplante Lieferung von Flugabwehrsystemen an die Ukraine zu begrüßen. Panzer, Langstreckenwaffen und Kampfflugzeuge sollten besser zu Hause bleiben.

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Bernhard Clasen
Journalist
Jahrgang 1957 Ukraine-Korrespondent von taz und nd. 1980-1986 Russisch-Studium an der Universität Heidelberg. Gute Ukrainisch-Kenntnisse. Schreibt seit 1993 für die taz.
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16 Kommentare

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  • Solange der Kreml und die ultra-recht antimoderne Hegemonie in Russland nicht vollständig besiegt ist, wird es die nächsten Jahrzehnte immer weiter Raketenbeschuss auf irgendwelche Häuser und Menschen in der Ukraine geben. und die imperialistische Aggression in der Moldau und Kasachstan - überall wo Moskau seine "Auslandsrussen" instrumentalisiert - wird weitergehen.



    die Kriegführung findet seit 2014 jeden Tag in der EU statt - a) mit Aufmärschen in Deutschland und dem seit dem gewonnenen Informationskrieg b) mit dem Sieg der Militärs über die syrische Bevölkerung, die gleichen die in der Ukraine morden - und c) mit der Zerstörung der EU durch das Trojanische Pferd Orban/ Ungarn.



    Die regierungslose Governance will nichts dagegen unternehmen, und behauptet, sie hätten gegen russische Kaffeeservietten Sanktionen verhängt.



    "Niederlande und Britain stellen Kampfjets für die Ukraine zur Verfügung"

    Ihre idealistische Realitätsverleugnung führt in die Katastrophe. Das gilt ultimativ für alle Terrorherrscher, die Pasdaran, Kim Jong-un, Syrien und Saudi-Arabien.



    Insbesondere der Glaube, die äußere Welt sei für das Innenhofgebiet nicht wichtig.

    Zar Alexander III. hielt Diplomatie für inexistent.



    Der richtige Autokrat sorgt sich für sein Eigentum, sein Land.



    Die liberale Governance reagiert empfindlich auf Trauzeugen-Quatsch.



    Das russische Reich zerschlagen!

    • @Land of plenty:

      Die Menschen in Westeuropa brauchen also die Subjektivität eines revolutionären Befreiungskriegs, um Russland zu besiegen.



      Ethisches Nein-Sagen nützt nichts.

      • @Land of plenty:

        Revolutionäre Befreiungskriege kommen nicht von außen, es sei denn man zählt Napoleon, gegen dessen Befreiungen es an vielen Orten Volksaufstände gab. Wer ernsthaft fordert, Russland zu zerschlagen, gibt der fintersten russischen Propaganda recht und stellt zudem eine irrsinnige Forderung, die im günstigsten Fall mit dem Leben hunderttausender Ukrainer und im schlimmsten Fall mit dem Untergang der Menschheit zu bezahlen wäre. Ich finde das ekelhaft, muss ich ehrlich und unverblümt sagen.

        • @Agarack:

          Sie wollen es nicht verstehen.



          Dieser Krieg kommt erstens sehr von innen aus den Ukrainern und zweitens sind alle EU-Länder kein Außen.

  • Was wäre denn bisher passiert, wenn man die Ukraine nicht mit allen möglichen Waffen (inkl. Offensivwaffen) ausgestattet hätte? Es lohnt sich sicher, dieses Gedankenexperiment mal durchzuspielen. Meine Prognose: Für die Menschen in der Ukraine wäre es nicht besser verlaufen! Vorschläge, ich denen die Waffenlieferungen gestoppt werden sollten, nehmen folgende zwei Szenarien in Kauf: 1. Russland nimmt sich kampflos die gesamte Ukraine, weil die Ukraine aufgibt; 2. Die Ukrainer kämpfen ohne westliche Waffen und verlieren diesen Kampf unter noch viel höheren Verlusten.

  • Ihrem Kommentar stimme ich zu. Hoffentlich bleibt die Ampel bei ihrem nein!

  • Ich stimme diesem Kommentar vollkommen zu, fürchte aber, dass er in diesem Forum (wie so viele zuvor) weitestgehend verhallen wird. Die Gefahr einer Eskalation des Krieges ist groß - und selbst, wenn er nicht eskaliert, glaube ich weiterhin, dass es nicht im besten Interesse der Ukraine ist, noch zehn- bis hunderttausende Menschenleben zu verlieren, nur, um Gebiet zurückzuerobern. Und wenn der Krieg bis 2024 geht und falls dann die Republikaner die US-Wahlen gewinnen sollten, kann sich die Position der Ukraine innerhalb kürzester Zeit ins Desolate verschlechtern. Verhandlungen aus einer Position der Stärke wären aus meiner Sicht das Beste, und ich würde mir weiterhin wünschen, dass es mehr Druck in diese Richtung gäbe.

    • @Agarack:

      Welche große Eskalation soll noch kommen?

      So schlecht, wie der Krieg für Russland läuft, hätte es bereits eskaliert, wenn es könnte.

      Hat die Ukraine gerade eine Position der Stärke?



      Prigoschin sagt, seine Leute haben gerade Bachmut eingenommen.

      Geht es denn "nur" um Gebiete?

      Wenn die jetzige Frontlinie zur neuen Landesgrenze der Ukraine wird, würde in Russland das als Sieg ausgelegt werden.

      In ein paar Jahren, wenn Russland Kräfte wieder gesammelt und die Armeestrukturen optimiert hat, ist dann der Rest der Ukraine dran.

      Dann die Moldau. Und das Baltikum.

      Selbst Putins Tod dürfte daran nichts ändern. Es gibt in Russland zuviele Stimmen, die Putin fast als Pazifisten darstellen und es besser, erfolgreicher machen wollen.

      Insofern geht es nicht um Gebiete.

      Es geht um einen Misserfolg für Russland.

      Weil Imperialisten nicht wissen, wann sie aufhören sollten.

    • @Agarack:

      Ich stimme Ihnen und dem Kommentar ebenfalls zu.



      Leider vermittelt Selensky gerade den Eindruck, vor Kraft kaum gehen zu können und beharrt auf Maximalforderungen.



      Selbst ein " Einfrieren des Konfliktes" lehnt er ab.



      Es wird der Tag kommen, an dem man sich, auch im Westen, überlegen muss, ob für frau Frieden das Ziel ist.



      Dann müssten die Milliardenunterstützungen evtl. an diplomatische Hürden gekoppelt werden.



      Krieg ist keine Lösung, sondern das Problem.

      • @Philippo1000:

        Warum Maximalforderungen ein Ausdruck von "Kraft" sind, müssten Sie erläutern.



        Maximalforderungen stellen manche auch aus Verzweiflung.

        Natürlich lehnt er ein Einfrieren des Konfliktes ab.



        Davon haben die Ukrainer nichts. Das hieße ein Sieg Russlands.

        Der Tag, an dem man sich im Westen überlegt, ob Frieden das Ziel ist, war bereits da.

        Frieden ist nicht mehr das Ziel. Das war bei Merkel noch so.

        Ein Ende des Krieges würde heute bereits reichen.

        "Krieg ist keine Lösung, sondern das Problem."



        . da werden Sie vermutlich nahezu 100 % der Ukrainer auf Ihrer Seite haben.

        Sie müssten nur noch Putin überzeugen.

        Ein einzelner Mann.

        Kommen Sie, das schaffen Sie.

  • Und was kommt danach? Nach all den roten Linien? Jetzt sind es schon Kampfflugzeuge. Jetzt gibt es schon Stimmen das auf das Gebiet von Russland auszuweiten. Wenn eine Atommacht sich bedroht fühlt, dann antworten die nicht mit Gummibärchen und Luftballons. Warum zieht Scholz & Co. hier eine Verhandlungslinie, die eigentlich nur die Ukraine selbst ziehen kann? Wir brauchen Milliarden für die Aufgaben der Zukunft und wir schnallen jetzt schon den Gürtel enger um Waffenlieferungen zu ermöglichen, die den Aufgaben der Zukunft total im Wege stehen. Das ist nur noch Wahnsinn.

    • @uffbasse:

      Der Einsatz von Atomwaffen gegen die Ukraine birgt ein unkalkulierbares Risiko für Putin. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dann die Amis aktiv ins Geschehen eingreifen.

      • @Otto Bufonto:

        Ja, stimmt.Und es ist in der Folge nicht unwahrscheinlich, dass wir Alle dabei drauf gehen.



        Daher bildete sich die Friedensbewegung.



        Eine Arroganz Bewegung, nach dem Motto:"die werden doch wohl nicht...?" ist kein Schild, hinter dem man und frau sich verstecken können.

    • @uffbasse:

      Nach dieser Logik kann eine jede Atommacht tun und lassen was sie will.



      Atomrakete = Freibrief.



      Russland "antwortet" schon seit dem ersten Tag nicht mit Gummibärchen und Luftballons, sondern mit wahllosem Bombenterror gegen die ukrainische Zivilbevölkerung - und da waren noch nicht mal die 5.000 deutschen Helme geliefert... - insofern gab es nie eine rote russische Linie.

      • @Farang:

        Ja, sie haben die Idee der Abschreckung verstanden.



        Das ist der Grund, weshalb aus dem kalten kein heißer Krieg wurde.



        Mit Ignoranz oder Arroganz lassen sich Atomraketen übrigens nicht bekämpfen, auch wenn Viele in den Kommentarspalten dies eifrig versuchen.

  • Nur mit rein defensiven Waffen läuft es auf einen langen Abnutzungskrieg hinaus, den die Ukraine am Ende nur verlieren kann. Putin wird nicht irgendwann die Lust verlieren, das kann er sich gar nicht leisten.



    Die einzige Chance, die Ukraine vor Unterwerfung und/oder Zerstörung zu bewahren, ist, für Putin das Risiko zu erhöhen. Das geht nur mit Angriffswaffen. Er wird nur ernsthaft verhandeln, wenn er etwas zu verlieren hat.