Neue Regierung in Griechenland: Warum hat Syriza keinen Kredit?
Die Tsipras-Regierung hat sich vom Klientelsystem ihrer Vorgänger verabschiedet. Dennoch wendet man sich in Deutschland von ihr ab.
Die letzten Jahre habe ich damit verbracht, mich bei den wohlwollenden Griechenverstehern unbeliebt zu machen. Ich hielt es für infantil, Angela Merkel zur Verkörperung allen Übels zu erklären; infantil in dem Sinne, alle Verantwortung für das eigene Tun zu leugnen. Meiner Meinung nach hatte die griechische Regierung nicht durch Zufall einen absurd hohen Schuldenberg angehäuft. Und auch die „einfachen Griechen“ waren durch ihre Beteiligung am Klientelsystem und ihr teilweise groteskes Konsum-Geprasse nicht unschuldig an der eigenen Lage.
Da ich mich also weigerte, mit den anderen ins antineoliberale Tränenkrüglein zu heulen, wurden mir von „griechischem Selbsthass“ bis hin zu „migrantischer Kleinbürgerattitüde“ so ziemlich alle Unterstellungen gemacht, die ich ansonsten als versteckte Diskriminierung analysiere.
Nun hat die linke Syriza, die ich auch oft kritisiert habe, in Athen die Wahl gewonnen. Das fand ich gut. Gut schon allein deswegen, weil die alte Riege der Papandreous, Venizelos, Samaras dieser Welt aus dem Rennen ist. Eigentlich sollten die hiesigen Griechenversteher auch zufrieden sein. Aber im Gegenteil, sie runzeln die Stirn und sind ganz und gar nicht glücklich: also der Koalitionspartner, iiiiih, wie kann man nur mit solchen Nationalisten, Antisemiten, Schwulenhassern der schlimmsten Art zusammengehen – das sagen Leute, die vor zwei Wochen noch nicht einmal von der Existenz des Anel-Chefs Panos Kammenos wussten, jetzt aber über jede seiner Verfehlungen exakt informiert sein wollen.
Frauen im Kabinett
Als sich die neue Regierung beschwerte, sie sei über die Verlängerung der Sanktionen gegen Russland nicht informiert worden – eine Kritik am Prozedere, mit der Athen klarmachte, dass Griechenland trotz Schulden eine Stimme in der EU hat –, äußerten Bekannte den Verdacht, Syriza würde sich in Richtung Moskau orientieren. Und dann ging es um die fehlenden Frauen.
ist freier Publizist und Migrationsforscher. Im Mai erscheint sein Buch „Kollaboration“ im Suhrkamp-Verlag.
Auch Klaus Walter schreibt in einem Artikel in der taz vom 5. Februar von der „Abwesenheit von Frauen im neuen Kabinett“. Richtig ist: Es gibt keine Ministerin. Das Kabinett aber besteht mit den im griechischen System wichtigen Stellvertreterposten aus 41 Personen, wovon 6 Frauen sind. Das sind zweifellos wenige, aber eine Diskussion dieser Zahlen ergibt nur Sinn, wenn man sie in einen Kontext stellt. Im 2012 vorgestellten Kabinett von Antonis Samaras gab es zwar eine Ministerin, für Tourismus, aber ansonsten überhaupt keine Frauen. Darum lässt sich die Zusammensetzung des neuen Kabinetts kaum als „symbolpolitischer Schachzug“ einer „virilen Regierung“ interpretieren, wie Klaus Walter das tut.
Als Schachzug zumal gegenüber Angela Merkel, die von Walter als Vertreterin europäischer Geschlechterquoten vorgestellt wird – und nicht etwa als Bundeskanzlerin eines hoch entwickelten Landes, in dem die Einkommen zwischen den Geschlechtern im europäischen Vergleich sehr weit auseinanderklaffen, das sich gegen eine Antidiskriminierungsgesetzgebung gewehrt hat und immer noch gegen Quoten wehrt. Als weiterer „Beweis“ für die virile Inszenierung des neuen Ministerpräsidenten dient dann das Cover des Spiegels („Europas Albtraum“), so, als hätte Tsipras es selbst so geordert. Und von da aus führt der Weg über Maskulinitätsmythen im Dancehall-Reggae in einer abenteuerlichen Argumentation direkt zu Wladimir Putin.
Warum hat die Regierung Tsipras – symbolisch gesehen – keinen Kredit? Griechenland braucht Reformen. Und die alte politische Klasse hat zuletzt gezeigt, dass sie zwar den Vorgaben der „Troika“ folgt, dabei aber weiter die eigene Klientel in Verwaltung und Wirtschaft bedient. Sie setzte die Sparprogramme tatsächlich auf Kosten der einfachen Bevölkerung durch, deren Leiden ihnen völlig gleichgültig sind: Britische Forscher konnten jüngst belegen, dass die Kindersterblichkeit in Griechenland zwischen 2008 und 2012 um 43 Prozent gestiegen ist.
Die Ideologen des Internationalen Währungsfonds haben sich in vielen Ländern als inkompetent, verbohrt oder schlicht gemeingefährlich erwiesen. Und heute stehen jene Länder besser da, die sich nicht an die Empfehlungen gehalten haben, etwa Island. Insofern kann nichts falsch daran sein, wenn Finanzminister Janis Varoufakis neu verhandeln will. Ein anerkannter Wirtschaftswissenschaftler mit einem Job in den USA, kein einheimisches Gewächs der Administration, der angesichts der endemischen Korruption geradezu revolutionär wirkt, wenn er in der Economy Class durch Europa fliegt, um für seine Pläne zu werben.
Modernisierungsmodell am Ende
Noch ein Wort zur Krise an den Rändern Europas. Mit der Finanzkrise ist ein ganzes Modernisierungsmodell an sein bitteres Ende gekommen. Im Grunde war die Strategie einer Entwicklung durch Industrialisierung im Süden Europas in den 1970er Jahren gescheitert. Seitdem sorgen die Regierungen dafür, dass Geld zum Konsum in die Gesellschaft gepumpt wird. Das taten sie vor allem durch drei Maßnahmen: die Ausweitung des staatlichen Arbeitsmarktes durch die Aufblähung der Verwaltung, frühe und vergleichsweise üppige Pensionierungen und die Inanspruchnahme von Subventionen durch die EU.
Diese Vorgehensweise hat zu einer paradoxen Modernisierung ohne Entwicklung geführt, weil konsumiert wurde, ohne tatsächlich eine tragfähige wirtschaftliche Substanz aufzubauen. Mitte der 2000er Jahre war Athen folgerichtig eine der teuersten Städte Europas.
Gestützt wurde dieses „Modell“ von einer historisch geprägten Mentalität, in der Eigentum mehr zählt als Arbeit. In Griechenland glauben viele nicht daran, dass man es mit Arbeit tatsächlich zu etwas bringen kann, und man bewundert Leute, die Vermögen besitzen, ohne dafür gearbeitet zu haben. Erst bei den Jüngeren haben sich diese Auffassungen verändert. Aber es sind auch diese jüngeren Leute, die vor den verschlossenen Türen eines klientelistischen Senioritätsclubs stehen. Sie sind aber diejenigen, die eine reale Entwicklung anstoßen könnten – eine Entwicklung, die in Griechenland auch möglich ist, weil Erfolg heute viel mehr auf Wissen beruht als auf Maschinen.
Deutschland profitierte
Gestützt wurde das beschriebene „Modell“ auch durch die europäischen Partner. Deutschland hatte keine Einwände gegen die konsumistische Modernisierung, denn Deutschland hat als Exporteur davon profitiert. Es erscheint mir daher geradezu widerlich, wenn der ehemalige Finanzminister Steinbrück sagt, die neue griechische Regierung müsse sich „mitteleuropäischen Umgangsformen“ anpassen. Die Situation der letzten Jahre hat Griechenland nicht nur ökonomisch erwürgt, sondern auch mental zugrunde gerichtet.
Im Süden Europas hatten die Menschen gegenüber dem Westen immer ein Gefühl von Minderwertigkeit. Zuletzt galten die Griechen als „orientalisch“ mit den entsprechenden Konnotationen. Die Depression war total, zumal es Mitte der 1990er Jahre, in der Folge von Olympia und Europameisterschaft, nach einer Aufnahme in den europäischen Club ausgesehen hatte.
Die neue Regierung ist da ein Hoffnungsschimmer. Diese Leute sind in erster Linie nicht korrupt, sie sind ernsthafte Europäer. Es geht hier gar nicht so sehr um links oder rechts, sondern um die Möglichkeit der Veränderung. Auf die alten Kräfte zu bauen würde bedeuten, die Korruption zu unterstützen, wie die EU es lange getan hat.
Syriza braucht also einen symbolischen Kredit für das nächste halbe Jahr. Und bis dahin gilt: Wenn man nichts von Griechenland versteht, schadet es nicht, einfach den Mund zu halten.
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