Neue Erzählungen von Wladimir Sorokin: Die große russische Leere

Wer Russland verstehen will, muss Wladimir Sorokin lesen. In seinen Erzählungen markiert der Autor die politischen Tendenzen mit bösem Humor.

Ein Blick auf eine große orthodoxe Kirche im Moskauer Winter

Hinter der Idylle lauern die Groteske und die Verharmlosung der Vergangenheit Foto: Alexander Zemlianichenko/ap

Die Staatsmacht ist in Aufruhr: Über Nacht hat sich das Uran in den Atomsprengköpfen in Zucker verwandelt. Verzweifelt wenden sich hohe Vertreter von Politik, Militär und Kirche mit letzter Hoffnung an einen alten Mönch, der direkten Kontakt zu Gott haben soll. Es steht nicht wenig auf dem Spiel, denn das unerwartete Ereignis stellt die militärische Stärke Russlands infrage. Das Wissen, immer für alle Fälle ein paar Atomraketen parat zu haben, hält das Land im Innern zusammen und garantiert seinen Platz in der Welt.

Dieses groteske Szenario hat Wladimir Sorokin in seiner Erzählung „Lila Schwäne“ entworfen, in der er den Nationalismus und Militarismus in Putins Russland gekonnt entlarvt. Der russische Schriftsteller sorgt schon seit seinen ersten Veröffentlichungen Ende der siebziger Jahre für Aufsehen.

Indem er typische Erzählweisen übersteigert, ins Groteske zieht oder buchstäblich zur Auflösung der Sprache treibt, dekonstruiert er den sozialistischen Realismus, den klassischen Roman des 19. Jahrhunderts und populäre Genres wie Krimi und Thriller. Seit Beginn der 2000er haben Sorokins Werke mehr und mehr dystopische Züge angenommen. Reale Tendenzen wie Tradi­tionalismus und Autoritarismus steigert er zu Zukunftsbildern, in denen Hochtechnologie und mittelalterliche Foltermethoden eine gruselige Sym­biose eingehen.

Im Erzählungsband „Die rote Pyramide“, der in diesen Tagen erscheint, sind neun Kurzgeschichten Sorokins aus den letzten zwei Jahrzehnten versammelt. Teilweise erinnern sie an seine frühen Werke, in denen er erst den typischen Stil und die Handlung konventioneller Erzählungen gekonnt imitiert und es dann zu einem radikalen Bruch kommen lässt – inhaltlich wie sprachlich.

Vladimir Sorokin: „Die rote Pyramide“. Aus dem Russischen von Andreas Tretner und Dorothea Trottenberg. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 192 Seiten, 22 Euro

In mehreren der Erzählungen, die zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen, hat Sorokin es auf ein romantisiertes Russlandbild abgesehen: Da stehen heimelige Datschen in Birkenwäldchen und die Butter duftet auf den Blinis, bis sich – mal sehr plötzlich, mal eher subtil – ein Grauen offenbart.

Immer herausfordernd

Sorokin fährt eine ganze Bandbreite an Formen auf, zu denen ein bitterböser Humor und Situationskomik genauso gehören wie Schock und Provokation. Die Erzählungen sind nicht alle im gleichen Maße gelungen, aber immer überraschend und herausfordernd. Die Über­set­ze­r:in­nen Andreas Tretner und Dorothea Trottenberg, beide schon erfahren mit Sorokins Texten, haben seine experimentelle und anspielungsreiche Sprache elegant ins Deutsche übertragen.

So absurd und fantastisch die geschilderten Situationen auch sein mögen – an ihnen lässt Sorokin nur aktuelle politische Tendenzen in Russland überdeutlich hervortreten. Die Hauptfiguren in „Lila Schwäne“ repräsentieren vor allem das mit Sowjetnostalgie getränkte Großmachtdenken und die konservative Religiosität, die zusammen die Grundlage für den aktuellen russischen Nationalismus bilden und das ideologische Vakuum füllen, das nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden ist.

Auch ein staatstreuer Künstler ist unter denjenigen, die Russlands Stärke retten wollen. Sein Lösungsvorschlag ist Propaganda, die die Gegner einfach permanent niederredet, bis alle verstanden haben, „in welch großartigem Land wir leben und wie viel wir gemeinsam zu tun imstande sind, wie vieles wir noch vor uns haben und was für einen vortrefflichen Präsidenten, was für hervorragende Militärs, Generäle, Starzen und Heilige“.

Echt sind nur die Sprengköpfe

Doch die meisten Vertreter der Macht sind sich einig, dass das dieses Mal nicht reichen wird. Der Abgesandte, der schließlich beim alten Mönch vorspricht und um Hilfe von ganz oben bittet, fasst das Problem treffend zusammen. In Russland sei alles „als ob“: „Freiheit – als ob, Gesetze – als ob, Ordnung – als ob“. Mit einer Ausnahme: „Echt ist bei uns nur dieser Sprengkopf. Nur dieses Uran, das Lithiumdeuterit. Das funktioniert. Wenn auch das noch zum Als-ob wird, dann ist gar nichts mehr da. Nur noch eine große Leere.“

Trotz solch deutlicher Kritik am russischen Staat ist Sorokin ein in Russland viel gelesener Autor, der mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde und dessen Bücher in Uni-Seminaren behandelt werden. Es gibt sogar Nationalisten, die Sorokins dystopische Entwürfe nicht als Mahnung, sondern als vielversprechende Prophezeiung lesen, zeigen sie doch Russland als isolierten Staat mit traditionalistischer, gottesfürchtiger Lebensweise und monarchistischer Gewaltherrschaft.

Die Literaturwissenschaftlerin Ekateria Vassilieva hat analysiert, dass die Rechte in Russland, zum Beispiel der neofaschistische Philosoph Alexander Dugin, mit Bildern operiert, „die den sorokinschen verdächtig nahekommen, wobei die Kritik und ihr Gegenstand fast ununterscheidbar werden“.

Verharmlosung der Vergangenheit

Doch Sorokin erlebt auch starke Anfeindungen. Putin-nahe Jugendgruppen gingen in mehreren Aktionen gegen den Autor bis zur Verbrennung seiner Bücher. Sie haben Rückendeckung. Schließlich wird in Russland schon seit einigen Jahren um die sowjetische Vergangenheit gerungen und die Regierung versucht ihre Deutung mit zunehmender Vehemenz durchzusetzen, wie zuletzt die Zerschlagung der Menschenrechtsorganisation Memorial zeigte, die sich für die Aufarbeitung des stalinistischen Terrors einsetzt.

Stalin erfährt derzeit eine Rehabilitierung, und auch, dass das Leben in den Gulags gar nicht so schlimm gewesen sei, ließen offizielle Stellen bereits vermelden.

Sorokin wendet sich gegen solche Verharmlosungen, indem er das, was nicht Teil des offiziellen Geschichtsbilds ist, in seinen Erzählungen gewaltvoll hervorbrechen lässt und ins Exzessive steigert: Machtmissbrauch, Gewalt und Sex. Mehrere Erzählungen des aktuellen Bandes spielen in der Sowjetunion. In der titelgebenden Geschichte stellt Sorokin die sowjetische Ideologie als eine Art magische Manipulation dar, als „rotes Rauschen“, das von einer unsichtbaren Pyramide auf dem Roten Platz ausgestrahlt wird und den Bür­ge­r:in­nen die Menschlichkeit austreibt.

Schämst du dich nicht?

In der Geschichte „Der Fingernagel“ kommt zum Beispiel eine ordentliche Portion Fäkalhumor zum Einsatz: Sorokin lässt eine beschauliche Feier mit süßem Sekt und Rote-Bete-Salat in einer bizarren Gewaltorgie enden, weil sich die Gäste darüber streiten, wer von ihnen das sauberste Poloch hat.

Ganz ohne solche humoristischen Momente kommt „Der Tag des Tschekisten“ aus, eine der eindrücklichsten Erzählungen des Bandes. Sie beginnt mit dem Dialog zweier Männer, die sich gegenseitig von ihren Taten im Dienst der Staatssicherheit berichten. Sie haben gefoltert, Intellektuelle ins Gefängnis gebracht und waren an Massenerschießungen beteiligt. Auf die wiederholte Nachfrage: „Schämst du dich nicht?“, antwortet der jeweils Angesprochene jedes Mal mit einem knappen „Nein“.

Anschließend schildert einer der Männer eine Szene, die er als Junge im Pionierlager beobachtet hat. Der Pio­nierleiter vergewaltigte ein Mädchen und erzählte ihm anschließend drohend und prahlend zugleich, dass Angehörige des KGB einen Menschen zertreten können wie eine Ameise – oder Träume erfüllen, zum Beispiel den Traum des Mädchens, Schauspielerin zu werden. Sorokin zeigt so, dass in einem autoritären System die staatlich befohlene Gewalt Hand in Hand geht mit der Möglichkeit des Einzelnen, sich über andere zu stellen, über ihr Leben zu bestimmen und ihnen Gewalt anzutun.

Ein verklärtes, heroisches Bild der Sowjetunion gehört zu den ideologischen Versatzstücken, die die „große Leere“ füllen sollen, wie sie in der Erzählung „Lila Schwäne“ beschrieben wird. Dass das nicht bruchlos gelingt, ist auch ein Verdienst von kritischen Au­to­r:in­nen wie Sorokin, die idealisierte nationalistische Russlandbilder entlarven und ihnen etwas entgegensetzen. Das haben die so verschiedenen Erzählungen im Band „Die rote Pyramide“ gemeinsam: Sie sind eine grandios gnadenlose Zerstörung der Idylle, die schon immer eine Illusion war.

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