Netflix-Film „Hillbilly-Elegy“: Wir entscheiden, wer wir werden
J. D. Vance' Memoiren galten als Erklärung für Trumps Rückhalt in der weißen Unterschicht. Ron Howard verfilmt sie als neoliberale Erfolgsstory.
Seine Aufstiegsgeschichte ist beachtlich, keine Frage: J. D. Vance wurde Mitte der 80er in eine Familie geboren, die aus der Gebirgsregion der Appalachen in Kentucky und damit aus einem Gebiet stammt, deren Einwohner „Hillbillys“ („Hinterwäldler“) genannt werden. Die Großeltern mütterlicherseits beschließen ob der Aussicht auf lukrative Arbeit in einem Stahlwerk nach Middletown, Ohio, in den heute bezeichnenderweise als „Rust Belt“ bekannten Teil der USA zu ziehen.
Die Großmutter ist zu dem Zeitpunkt erst dreizehn und bereits schwanger. Mit der dahinschwindenden Industrie nehmen die Probleme zu, so etwas wie Familienfrieden gibt es nicht. Ihre Tochter Beverly wird ebenfalls früh schwanger, womit sich höhere Bildung und Karriere für diese trotz vielversprechender Noten erledigt haben.
Dem Strudel aus Armut und Hoffnungslosigkeit, Alkohol und härteren Drogen, ständigen Aggressionen und Gewaltausbrüchen, in dem auch die Mutter versinkt, konnte Sohn Vance entkommen.
Er schaffte es an die Yale University und studierte Jura. Bevor er Finanzmanager wurde, verfasste er sein Buch „Hillbilly Elegy: A Memoir of a Family and Culture in Crisis“, das 2016 dankbar als Erklärung für Donald Trumps überraschenden Sieg aufgenommen wurde.
Ein Mann, der Hass teilt
Hass auf „die belehrenden Eliten“ und „abgehobenen Medien“ führten laut Vance zur Entfremdung von der Politik in Washington – hin zu einem Mann, der den eigenen Hass teilt, Arbeitsplätze verspricht, sich „hemdsärmelig“ gebiert und über politische Korrektheit spottet.
„Hillbilly-Elegie“. Regie: Ron Howard. Mit Glenn Close, Amy Adams u. a. USA 2020, 117 Min. Läuft ab 24. November auf Netflix
Das Buch interessiert sich mehr für die Situation der weißen Unterschicht als die Frage, wie sie verbessert werden kann. Vance scheint als Lösung eine diffuse Mischung aus politischer und Eigenverantwortung vorzuschweben – auch wenn er als Republikaner, der sich selbst als „sehr altmodischen Konservativen“ beschreibt, zu Letzterem tendiert.
Ron Howards Adaption hingegen lässt keinen Raum für Ambiguitäten und vereindeutigt Vances Biografie zu einer neoliberalen Erfolgsgeschichte, in der Ehrgeiz allein den Weg aus dem Elend weisen kann.
Dafür konzentriert sich das Drehbuch von Vanessa Taylor („Shape of Water“) auf eine wichtige Episode während Vances (Gabriel Basso) Studium: Die Studienkosten, die sich trotz Fördermaßnahmen noch in fünfstelliger Höhe bewegen, müssen getilgt und dafür muss ein einträglicher Semesterjob in einer angesehenen Kanzlei ergattert werden.
Tragisches Familiendrama mit Disney-Anstrich
Doch mitten in der Bewerbungswoche erreicht ihn ein Anruf seiner Schwester Lindsay (Haley Bennett): Mutter Beverley (Amy Adams) hat sich eine Überdosis Heroin gespritzt und liegt im Krankenhaus. Vance setzt sich ins Auto und fährt zehn Stunden gen Heimat. In Rückblenden wird ausgehend vom Jahr 1997 ein Familiendrama erzählt. Eines, das bis auf kleine Momente der Unbeschwertheit nur Qualen kennt und irritierenderweise dennoch mit einem Anstrich von Feel-Good-Movie daherkommt.
Das Aufbruchstimmung verheißt, obwohl all seine Figuren – außer Vance – ununterbrochen auf der Stelle treten. Schuld daran mag das lebhafte Kolorit der Bilder sein, die dem Film den ungehörigen Anflug eines Disney-Familienfilms aus den Neunzigern verleihen. Die vollmundige musikalische Untermalung durch Hans Zimmer verstärkt diesen Eindruck zusätzlich.
Ohnehin bemüht sich „Hillbilly-Elegie“ um Konsensfähigkeit. Wie schon in „A Beautiful Mind“, in dem es um den an Schizophrenie erkrankten Mathematiker John Nash geht, lässt Ron Howard allzu große Unliebsamkeiten in den Biografien der Porträtierten überspielen.
Der Rassismus der Großmutter (Glenn Close) muss wohldosiert sein, damit sie dem Film als Sympathieträgerin nicht abhandenkommt. Ihre Gewaltbereitschaft – immerhin zündet sie ihren Ehemann an, als sich dieser im Alkoholdelirium wiederholt einnässt – kommt nur punktuell zum Vorschein.
Rassistisch, aggressiv und drogenabhängig
Während sich die Großmutter letztlich als Anker erweist und Vance zu besseren Leistungen anspornt, ist Mutter Beverley immer schon Last. Nach dem Tod ihres Vaters rutscht sie immer mehr in die Drogenabhängigkeit ab, verliert ihren Job als Krankenschwester, bietet den Kindern mit ständig wechselnden Partnern kein stabiles Umfeld. Im Jetzt ist sie zornig, weigert sich, schon wieder in die Entzugsklinik zu gehen, und nutzt die erstbeste Gelegenheit für einen weiteren Rückfall.
Trotz allem zieht sich Vance nahezu am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Kurz vor dem Abspann lässt „Hillbilly-Elegie“ seinen Protagonisten resümieren, dass uns zwar die Familie zu dem mache, was wir sind, dass wir letztlich aber „jeden Tag selbst entscheiden, wer wir werden wollen“.
Damit steht am Ende eine trügerische Verheißung, die die Politik aus der Verantwortung entlässt und den Status quo legitimiert. Kritik an horrenden Studiengebühren, die soziale Aufstiegschancen mindern, bleibt aus. An einem Krankenversicherungssystem, das die Mutter einen Tag nach der Überdosis aus der Klinik wirft, ebenso. Hungern in der Kindheit, kein Geld für Schulmaterialien? Keine Ursache. Man muss sich nur anstrengen. Alle, die es nicht schaffen, sind selbst schuld.
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