Netflix-Doku über Joan Didion: 94 Minuten sind nicht genug
„Die Mitte wird nicht halten“ porträtiert die US-Schrifstellerin Joan Didion. Sie will nichts enthüllen, sondern ihr Lebenswerk würdigen.
„Ich weiß nicht, was es bedeutet, sich zu verlieben. Das ist nicht Teil meiner Welt“, sagt Joan Didion irgendwann mit verdutztem Blick. Die 82-jährige US-Autorin erinnert sich, wie sie ihren Ehemann John Gregory Dunne Anfang der 60er Jahre kennenlernte. „Ich denke, ich mochte es einfach, ein Paar zu sein. Und wollte, dass es so weitergeht.“
Es sind Momente wie dieser, in denen der Dokumentarfilm „Die Mitte wird nicht halten“ es schafft, uns etwas Neues über Didion zu erzählen. Genauso auch die Szene, in der sich Didion in ihrer Küche ein Kresse-Sandwich macht und die Kruste mit einem viel zu großen Messer entfernt. Unbekannte Details aus ihrem Leben. Denn die Schriftstellerin, die neben ihren Romanen, Drehbüchern und politischen Reportagen, vor allem mit autobiografischen Essays Ruhm erlangte, hat wohl kaum einen Wendepunkt in ihrem Leben nicht mit ihren Leser*innen geteilt.
Von ihren Begegnungen mit Ikonen der 60er Jahre auf Hauspartys („The White Album“), über ihre Kindheit in Sacramento („Where I Was From“) bis hin zur Bewältigung der Trauer. Erst um ihren verstorbenen Mann („The Year fo Magical Thinking“) und kurz darauf um ihre verstorbene Tochter („Blue Nights“).
Didions gesamte Vita lässt sich in ihren persönlichen Texten und Memoiren nachlesen. Und nicht nur das: Als Chronikerin ihrer Zeit führt sie ihre Leser*innen durch die Abgründe der Hippie-Bewegung oder den Bürgerkrieg in El Salvador. Was für einen Mehrwert also kann eine Dokumentation über sie noch bieten?
Die Netflix-Produktion macht sich gar nicht erst die Mühe, eine neue Erzählung zu setzen. Sie zitiert mit Didions Stimme Passagen aus ihrem Werk und lässt sie von ihr kommentieren. Die fehlende Distanz ist vor allem dadurch zu begründen, dass es sich beim Regiesseur des Films um Griffin Dunne handelt, Didions Neffen. Er teilt zeitweise Erinnerungen aus seiner Kindheit und gleicht diese mit der Perspektive seiner Tante ab.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das die beste Art ist, um mit einer Denkerin umzugehen, die sich zeitlebens an allem, was sie umgab, und am schonungslosesten an den eigenen Unzulänglichkeiten abgearbeitet hat. Wir sehen einer jungen Vogue-Autorin beim Aufstieg zu – einer der schillerndsten Journalistinnen und Schriftstellerinnen des Landes. Einer hippen jungen Frau, die mit Zigarette in der Hand und mit verletzlichem Blick vor dicken Autos post.
Mit Archivbildern und Erzählungen von befreundeten Autoren und Redakteuren wird das Bild eines glamourösen Intellektuellenpaars gezeichnet (Ehemann Dunne war ebenfalls Autor), das fortwährend an gegenüberliegenden Schreibtischen arbeitet, Texte austauscht, sich gegenseitig redigiert. Auch Texte, in denen es um Probleme in der eigenen Ehe geht. „Man nutzt das Material, das man hat“, erklärt Didion heute nüchtern.
Zugleich aber stellt sich die Frage: Ist da wirklich nicht ein einziger Moment, eine einzige kleine Tragödie oder eine Banalität in Didions aufregendem Leben, die wir nicht aus ihren Erzählungen kennen? Die Doku sagt entschlossen: Nein. Oder vielleicht auch: Wen kümmert’s?
Der Film will gar nicht einen neuen Blick auf die Grande Dame der US-Literatenszene werfen. Er will nichts enthüllen, sondern das Lebenswerk würdigen. All jene, die es nicht kennen, will er zum Lesen animieren. Denen, die es kennen, liefert er visuellen Stoff zu all den Szenen, die Didions Texte ohnehin in nahezu fotorealistischem Stil schildern und verewigen.
Schade ist, dass die Doku nur wenig von Didions politischen Reportagen und kaum von ihren chronisch unterschätzten, aber großartigen Romanen erzählt. Am Ende passt in 94 Minuten eben nicht einmal die Erwähnung all der Leistungen, zu denen Didion in 82 Jahren fähig war.
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