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Neoliberaler Essay von Ulf PoschardtDesperado in der Chefetage

Die Bundesrepublik ist eine Art Öko-Nordkorea voller Verbote geworden, nur der Journalist Ulf Poschardt glaubt weiter an das Individuum. Wirklich?

Ulf Poschardt hat es schwer, alles was ihm ganz besonders Spaß macht, solle verboten werden Foto: INSADCO/imago

Der Neoliberalismus hat als Versprechen von Freiheit, Individualität und Aufstieg fast alle Leuchtkraft verloren. Es fließen zwar noch immer maßlos Boni in die Taschen der Managerklasse. Doch als Idee ist der Neoliberalismus verdorrt. Nicht erst seit Corona haben viele begriffen, dass ein funktionsfähiger Sozialstaat mehr wert ist als der Kult des Egos und dessen glitzernde Unzuverlässigkeiten.

Ulf Poschardt, Chefredakteur der „Welt-Gruppe“, pfeift unverdrossen weiter die neoliberale Melodie. Deutschland ist demnach noch immer „staatsselig“, die Bundesrepublik ein gemütlicher Sozialstaat, in dem Unternehmer unverstandene Außenseiter sind etc.

Man kennt das. Die Republik, die hier in groben Strichen gezeichnet wird, sondert alle aus, die sich nicht „der sozialismuskompatiblen Kirchentagslyrik“ beugen. Als Opfer fällt dem Autor Josef Ackermann ein, Ex-Chef der Deutschen Bank, der nur knapp einer Verurteilung wegen Untreue entging.

„Mündig“ ist ein Essay, der auf Kants Definition zurückgreift und in 16 Kapiteln – von Demokratie über Erziehung bis zu Intellektuellen – skizziert, was gesellschaftliche Mündigkeit wäre. Die Texte sind forsch geschrieben, oft assoziativ, immer meinungsstark. So spannt sich ein kulturkritischer Bogen von Männerbildern in Autowerbung bis zu Skatern, von einem Loblied auf Formel-1-Rennfahrer vergangener Tage über Partys in Clubs bis zur erwartbar ätzenden Kritik der politischen Linken.

Chaos im Kinderzimmer

Das Kapitel über Erziehung bietet einen knappen historischen Abriss über die Karriere der Idee, dass Pädagogik nicht Untertanen, sondern autonome Individuen zum Ziel hat. Bei anderen Kapiteln, etwa über Konsum, hat man das Gefühl, in ein Kinderzimmer nach der Geburtstagsfeier zu schauen: Hier müsste erst mal aufgeräumt werden.

Stringente Begründungen und abwägende Urteile sind eher im Weg

Dem mündigen Luxuskonsumenten Ulf Poschardt geht „die Scham- und Schuldrhetorik“ der Ökos „am Allerwertesten vorbei“. Einleuchtend scheint ihm dafür „Weniger ist mehr“ und die von ihm als vorbildlich gelobte französische Nobelmarke Hermès, die ihre Waren noch selbst repariert. Bestimmt hilft der Kauf des Rucksacks „City back 30“ – 5.800 Euro im mittleren Hermès-Preissegment – gegen den Klimawandel.

Als besonders übles Zeichen der mausgrauen Verbotskultur, die uns alle im Klammergriff hält, erscheint das Schicksal der Autos. „Wer heute nachts über die leere Autobahn jagt, erlebt ein Land, in dem niemand mehr heizt. Alle sind von Moral entmündigt, ‚vernünftig‘ geworden“, so Poschardt. Manchmal wirkt er wie ein wütendes Kind, dem jemand sein Lieblingsspielzeug weggenommen hat.

In der vollendet kontrollierten Horrorwelt der Zukunft „werden Autos nur starten, wenn der Fahrer nüchtern und entspannt ist“. Nicht mehr besoffen und aggressiv Vollgas geben zu dürfen, erscheint hier als Verwirklichung einer Orwell’schen Diktatur. Ein wenig Einsamkeitspathos und Massenverachtung haben schon immer zum liberalen Individualismus gehört. Bei Poschardt werden diese Posen hysterisch.

Namedrops are falling on my head

„Der Mündige ist Dissident und Zentrum zugleich“, heißt es. Logisch hat das wenig Sinn. Wenn Dissidenz und Zentrum das Gleiche sind, was bezeichnen diese Worte noch? Solche Sätze sind nur zu verstehen, wenn man sie als Selbstbeschreibungen des Autors liest – ein hoch bezahlter Mitarbeiter des Springer-Konzerns, der träumt, ein Desperado zu sein.

Auch die Erkenntnis „Der Mündige liefert eher Unfertiges als allzu Fertiges ab“ scheint eine Selbstbeschreibung dieses ADHS-Essayismus zu sein, der Theoriesound­bites verquirlt. Mündigkeit definiert Poschardt als „Selbstverantwortung im existentiellen Sinne“. Um diese freihändige Idee akademisch abzustützen, werden auf Seite 246 auf 40 Zeilen Kant, ein Vorsokratiker, Sokrates, Descartes, Wittgenstein und Camus zitiert. Namedrops are falling on my head.

Im vorletzten Kapitel – Der mündige Künstler – werden den Lesern doch noch ein paar Lichter aufgesetzt. Poschardt kennt sich mit Pop, von Punk bis Black Metal, solide aus, ein Eindruck, der sich sonst nicht immer aufdrängt. In der Popkultur zählen Provokation und Kreativität, Effekte und Distinktionen – kurzum: Aufmerksamkeitsproduktionen.

Genau so schreibt Poschardt über Politik. Es geht um maximale Aufmerksamkeit – stringente Begründungen und abwägende Urteile sind da eher im Weg. Der Preis der Übersetzung von politischen Argumenten in die Rhetorik des Pop ist die Infantilisierung des Diskurses. Das ist allerdings das Gegenteil von mündiger Kommunikation.

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7 Kommentare

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  • Haha, der Chefredakteur der Welt sieht sich als Dissident.

    Schön, dass einer, den man ja auch als neoliberalen Ideologen sehen kann, soviel Humor hat.

  • ...und dennoch macht alle paar Jahre eine_r von euch zu denen rüber.

  • Mir geht solcherlei gewinsel ja gelegentlich schwer auf den Keks. Wäre fast Motivation, das Buch auch mal zu lesen. Allein um zu sehen, wie sich camus, der ja Freund der Solidarität auf der Seite derer, die Geschichte zu erdulden haben, die von anderen gemacht wird, da hineinverirrt hat... 😂

  • Beim Thema Auto gibt es für Springer bestimmt keinerlei Kompromisse. Was den Amis die NRA ist, ist für uns in Deutschland nun mal die Auto-Lobby in Form der Springer-Presse.

    Aber selbst bezahlte Mitarbeiter des Springer-Konzerns haben in den letzten Jahren ein Stück weit umgedacht. Selbst in der WELT findet man seit einiger Zeit Tipps, wie man wieder (zurück) in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln kann. Der Sozialstaat ist also spätestens in der Lebensphase des neoliberalen Individuums wieder relevant, in der die private KV zu teuer wird und die drohenden Verluste am Besten sozialisiert werden sollten. Da wird Solidarität ganz praktisch gelebt.

    Und "Staatsselig" sind die Neoliberalen ja auch irgendwie. Gegen einen starken Staat sind sie überhaupt nicht, z.B. in Form eines satten Militärhaushalts oder Polizeiapparats. Auch bei der Rettung von Konzernen ist der starke Staat der Managerklasse willkommen, wenn er viel, viel Geld gibt, aber am Besten wenig oder gar nichts zu sagen hat (siehe Lufthansa).

  • Ach, Ulf:

    was jetzt kommt ist für euch nicht so schön



    aber wenn man gehn soll soll man gehn

    eure zeit, sie liegt so lang zurück



    in ddr und bundesrepublik

    so wie damals wird es nie mehr sein



    die alte zeit, sie war so schwer wie blei

    das maß aller dinge, das wart ihr



    die andern mit spezialproblemen wir

    manche dinge die versteht ihr nie



    diversity und gender-theorie

    andre nehmen eure plätze ein



    sie werden nicht so weiß und männlich sein

    jetzt fühlt ihr euch selbst diskriminiert



    es ist nicht schön wenn man privilegien verliert

    so wie früher wird es nie mehr sein



    nehmt es wie ein mann und sagt goodbye

    was jetzt kommt ist für euch nicht so schön



    aber wenn man gehn soll soll man gehn

    (Christiane Rösinger)

  • Ach der Ulfi, will das Pferd von hinten aufzäumen. Und das nur, weil er nicht wahrhaben will, dass uns die "Pfeffersäcke" in die Scheiße geritten haben mit ihrem Mantra, dass es allen gutgeht, wenn es ihnen nur gutgeht. Und was haben wir jetzt? Einen Planeten, der immer schneller zu einer giftigen Müllhalde mutiert und dessen Klimaveränderungen Millionen Menschen auf eine unschöne Wanderung zwingen wird, denn sie werden nicht überall willkommen sein. Oder wenn sie da bleiben wo sie sind, unsägliche Entbehrungen oder Belastungen ihren Lebensalltag bestimmen werden.



    Und was macht dann der Ulfi, sollte er diese Zeiten noch erleben. Er wird in sein Rotweinglas schauen und darüber sinnieren, wie schön das Leben doch eigentlich ist.

  • Der Herr Poschardt schreibt getreu dem Motto: Wes Brot ich ess, dess Lied ich sing...



    Mehr steckt nicht hinter dem "klugen" Geschwurbel.