Warum sich „Gegner“-Lektüre lohnt: Die letzten Tage der „Welt“
My car is my castle – Automobile stehen für Freiheit und alles Wichtige: Was uns die Lektüre der gleichnamigen Zeitung lehrt.
L etzte Woche war ich an einem weltabgewandten Ort im Nordosten des Landes, in einem Hotel, in dem es morgens nur Die Welt zu lesen gab, dafür kostenlos. Also stürzte ich mich auf die journalistische Magerkost, hatte ich doch selbst im August bei einem Sommerseminar über „Intellektuelle Selbstverteidigung“ die Devise ausgegeben: Lies deine Gegner.
Es war eine erstaunliche, augenöffnende und erschreckende Erfahrung. Medienschelte ist eigentlich kein Thema für das Schlagloch, aber in diesem Fall offenbarte sich exemplarisch, wieso unsere Gesellschaft gelähmt ist, wieso in Teilen der Bevölkerung solche Angst vor Veränderungen herrscht.
Schon zur Eröffnung der IAA in Frankfurt hatte sich die Zeitung schlagzeilenfett auf die Seite eines offenbar bedrohten Objekts geschlagen: MY CAR IS MY CASTLE. In verschiedenen Artikeln wurde das Existenzrecht der Autofahrerinnen wortstark und argumentschwach verteidigt. Gerade als ich las, dass das Auto durch nichts zu ersetzen sei, fuhr eine Kutsche vorbei, mit zwei nostalgisch dreinblickenden Gäulen. Das Prinzip war klar: Eine erfundene Bedrohung wird ins Unfassbare hochgesteigert, um sich mit Schaum vor dem Mund darüber empören zu können.
Am Freitag dann eine fette Nachricht: „WIRTSCHAFT SCHOCKIERT ÜBER KLIMA-ENTWURF“. Tatsächlich? Nein, natürlich nicht, aber Schlagzeilen müssen ja auch nur der gefühlten Wahrheit entsprechen. Im Text wabert eine „Unruhe in den betroffenen Wirtschaftsbranchen“, aber selbst für diese eingeschränkte Behauptung gibt es KEINE Beweise, abgesehen vom Schwafeln des Geschäftsführers des Bundesverbands der deutschen Heizungsindustrie, dass „Verbote ins Leere gehen“. Wenn dem so ist, wieso schaffen wir das Strafgesetzbuch nicht ab?
ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher, darunter: „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag). Im Jahr 2017 erschien, ebenfalls bei S. Fischer, „Nach der Flucht“.
Im Leitartikel daneben läuft Chefredakteur Ulf Poschardt Wort-Amok: „Neuroseninkubator“, „Erregungskurve“, „Hysterisierung“, „Ökojakobiner“, „Denkleistungsverweigerung“, „Militanz-Biedermeier“ usw. Ein feines Beispiel für Komposita in der deutschen Sprache, ansonsten ein rowdyhaftes Benehmen, das man eher aus dem Straßenverkehr kennt. Auf Seite 2 ein ausführliches Interview mit Björn Lomborg, der auf Technologien setzt (eine Öl-Alge werde es richten) und zudem vorrechnet, dass jede Maßnahme für sich allein genommen nichts bringe (eine beliebte Selbsttäuschung unter Diätmuffeln).
Ansonsten bastelt er weiter an seiner erstaunlichen Karriere, indem er wider die Vernunft löckt. Ein Beispiel: „Man könnte auch sagen, die Klimaerwärmung führt dazu, dass weniger Menschen erfrieren … zudem ist es leicht, Menschen vor dem Hitzetod zu schützen: Klimaanlagen. Die Menschen vor einem Kältetod zu bewahren, ist viel schwieriger.“ Herr Lomborg erleidet Kälteidiotie.
Am Samstag: „Geistige Klimakatastrophe“ (gemeint ist der Protest, nicht die Idee des ewigen Wirtschaftswachstums). Auf Seite 2 berichtet Wolfgang Büscher von der Demonstration in Berlin. Büscher, der einst einige brauchbare Bücher geschrieben hat, ist inzwischen ehrenamtlicher Sprecher der Deutschen Zynikergesellschaft. Mit prophetischem Grimm verkündet er, dass die Klimabewegung „auf dem Gipfel ihrer Popularität angelangt ist“, später spricht er vom „Zenit des Massenerfolgs“. Offensichtlich hat der Journalist wenig Ahnung von Demos, denn er mokiert sich über alles, was sie per se ausmachen, über die kurzen Slogans, über die Fixierung auf die Zahl der Protestierenden, über die Vielfalt der beteiligten Gruppen.
Endlich mal ein vernünftiger Satz
Inzwischen herrscht in allen Ressorts Hysterie, weswegen selbst die normalerweise lesenswerte „Literarische Welt“ ins Wochenende brüllt: „Droht uns der Ökoterrorismus, Mister Boyle“. Um dann dem großartigen amerikanischen Romancier einige dumm-suggestive Fragen zu stellen („Greta Thunberg will, dass wir in Panik geraten“), die T. C. Boyle souverän humorvoll abfedert, selbst das Beharren der Fragenden auf das terroristische Potenzial des Umweltschutzes: „Mehr als potentielle Terroristen fürchte ich die Regierung im Weißen Haus.“ Nach stundenlanger Lektüre endlich mal ein vernünftiger Satz.
Am Sonntag hat man endlich ein wichtigeres Thema gefunden: „Illegale Einreisen mit dem Flugzeug nehmen zu.“ Es habe einen Zuwachs beim monatlichen Durchschnitt der „unerlaubt Einreisenden“. gegeben. Genau um wie viel, muss der ungeneigte Leser selbst ausrechnen: 2018 waren es 857 pro Monat, in diesem Jahr sind es bislang 882. Vor diesem explosionsartigen Anstieg müssen natürlich alle anderen Themen weichen. Aber auf ein weiteres Nachtreten will die Redaktion doch nicht verzichten: „DURCH ZWANG ZU GLÜCK“.
Einerseits stimmt dies faktisch nicht – das Klimapaket enthält viel Zuckerbrot und eine „mikroskopische Peitsche“ (heute-Show). Andererseits beweist die Schlagzeile, dass Denken offensichtlich keine Stärke dieser Zeitung ist. Unsere Gesellschaft besteht aus vielen Zwängen – Schulpflicht, Wehrpflicht, Steuerpflicht, Gurtanschnallpflicht und anderen –, die alle dem vermeintlichen Glück der Menschen dienen sollen. Die Ideologen im Springer Verlag imaginieren sich eine Freiheit herbei, die sie auf den Barrikaden mit ihrem Blech verteidigen.
All diese temperamentvollen Blockadehaltungen ergeben nur Sinn, wenn man die ökologischen Bedrohungen nicht ernst nimmt, wenn man nicht wirklich an Klimawandel und die fortschreitende Zerstörung der Natur glaubt. Wenn man davon ausgeht, dass es irgendwie mit Wachstum und Wohlstand, mit Verbrauch und Verschwendung so weitergehen kann, ad infinitum. Oder aber es handelt sich um das Phänomen, das die Wissenschaft „willful blindness“ nennt – das absichtliche Verschließen der Augen. Wenn ich die Realität ignoriere oder negiere, kann mich nichts aus dem gemütlichen Bett des Status quo vertreiben.
Leider muss ich meinen sommerlichen Ratschlag präzisieren: Lies die Texte deiner Gegner. Nicht zur intellektuellen Herausforderung, sondern als Krankenakte.
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