Nazi-Vergangenheit: „Ich hatte vor Entsetzen kein Gefühl“
Tätertochter Barbara Brix muss damit leben, dass ihr Vater bei Erschießungen in der Sowjetunion zumindest anwesend war
taz: Frau Brix, wann haben Sie erfahren, dass Ihr Vater Nazi-Täter war?
Barbara Brix: Ostern 2006, kurz vor meiner Pensionierung. Ein befreundeter Historiker, der sich mit den Baltendeutschen in der SS befasste, war nicht nur auf meinen Onkel – einen familienbekannten Nazi – gestoßen, sondern auch auf seinen jüngeren Bruder: meinen Vater. Das hat er mir dann vorsichtig mitgeteilt. Ich war total geschockt und konnte es zunächst gar nicht fassen.
Was hat Ihr Vater getan?
Er war schon 1933, mit 21 Jahren, in die illegale Nationalsozialistische Volksdeutsche Partei (NSVDP) in Riga eingetreten, die sein Bruder gegründet hatte. Dann hat er Medizin studiert, geheiratet und sich kurz nach Kriegsbeginn freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 hat er meiner hochschwangeren Mutter mitgeteilt, dass er – so war die in der Familie überlieferte Formulierung – „an die russische Front“ gehe.
74, in Breslau geboren, war bis zu ihrer Pensionierung Lehrerin in Hamburg. 2007/2008 verbrachte sie ein Freiwilligenjahr der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in der südfranzösischen Gedenkstätte Rivesaltes bei Perpignan. Sie ist Vorstandsmitglied im Freundeskreis der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und seit vielen Jahren in der Gedenkstättenarbeit aktiv.
Tatsächlich aber zu den berüchtigten „Einsatzgruppen“, die systematisch die kommunistischen Funktionäre und die jüdische Bevölkerung der Sowjetunion ermorden sollten.
Ja, wobei ich nicht sicher bin, dass er diesen Auftrag von Anfang an kannte. Allerdings wüsste ich gern genauer, welches seine Aufgabe in der Ukraine war. Das ist schwer zu recherchieren, denn die Rolle der Ärzte in den Einsatzgruppen ist kaum erforscht. Mein Vater selbst hat nach dem Krieg bei einer Ermittlung ausgesagt, er sei nicht nur für die Einsatzgruppe C zuständig gewesen, sondern auch für die in der Nähe stationierten Wehrmachtseinheiten. Er habe Lazarette mitbetreut, sei viel „auf Dienstreise“ gewesen und habe in Kiew eine „Dienststelle“ eingerichtet. In seiner Entnazifizierungsakte hat er das – sicherlich beschönigend – „Hygiene-Institut“ genannt. Ich weiß aber nicht, was das konkret bedeutet und was er da tat.
Ob er zum Beispiel bei Massenerschießungen dabei war.
Es gibt Zeugenaussagen, denen zufolge ein namentlich nicht genannter Arzt bei einzelnen Aktionen anwesend war, zum Beispiel, als eine Gruppe Partisanen gefasst und erschossen wurde. Mein Vater hat bei seiner Vernehmung vehement bestritten, je bei Erschießungen zugegen gewesen zu sein. Das habe auch ich lange geglaubt: dass er sich als überzeugter Nazi dem Regime zwar zur Verfügung gestellt hatte, aber nicht an den Massenmorden beteiligt war und davon nur „vom Hörensagen“ wusste.
So hat er es später vor dem Ermittlungsbeamten formuliert.
Im ersten Verhör noch nicht. Er gab zunächst immer nur das zu, was ohnehin bekannt war. Später sagte er, konkret zu Babij Jar bei Kiew befragt, wo am 28. und 29. 9. 1941 Einheiten der Einsatzgruppe über 33.000 Juden erschossen und in eine Schlucht warfen: Er sei nicht dabei gewesen, hätte aber „gesprächsweise von Erschießungen gehört“. Er glaube aber, dass er da bereits im Heimaturlaub gewesen sei.
Was glauben Sie heute?
Ich habe anhand der Daten rekonstruiert, dass er Ende September 1941 wahrscheinlich sehr wohl in Kiew war. Vor einiger Zeit hat mir dann ein niederländischer Journalist die gerichtliche Aussage eines Einsatz-Kommandanten gezeigt. Daraus geht hervor, dass mein Vater – diesmal namentlich genannt – bei einer großen Erschießungsaktion gegen Lemberger Juden im Juni 1941 zugegen war. Da wurde ich zum ersten Mal damit konfrontiert, dass mein Vater bei seiner Befragung gelogen hatte. Das war der zweite Schock für mich. Ich hatte meinen Vater immer für einen gradlinigen Menschen gehalten.
Wie haben Sie ihn privat erlebt?
Ich habe ihn ja erst mit sechs Jahren kennengelernt, als er – beidseitig beinamputiert – aus Krieg und Internierung zurückkam. Danach war er derjenige, der uns vorlas, mit uns ins Theater und zur Kirche ging und diskutierte. In meiner Erinnerung war er mein geistiger und moralischer Mentor.
Welche Werte hat er Ihnen vermittelt?
Unmittelbar nach dem Krieg durchlebte er eine starke Hinwendung zum Christentum. Und seine Werte – das war der christlich-bürgerliche, wertkonservative Anstandskatalog.
Wo stand er nach 1945 politisch?
In den ersten Jahren nach dem Krieg hat er SPD gewählt, was für diese Familie, die durch und durch nationalsozialistisch getränkt war, erstaunlich war.
Deuten Sie das als Läuterung?
Ich weiß leider nicht, in welchem Maß er seine Nazi-Geschichte bearbeitet hat. Ich kann nur mutmaßen anhand der wenigen Briefe und Gedichte, die ich gefunden habe. Sie drücken Schwermut aus und das Gefühl, dass etwas unwiderruflich untergegangen ist. Ich schließe daraus, dass er zumindest kein Nazi geblieben ist. Ich denke, auch die Hinwendung zum Christentum zeigt, dass er sich mit diesen Verbrechen mindestens moralisch auseinandersetzte und dass die SPD das damals am stärksten verkörperte. Später wurde er wieder konservativer, ausgelöst durch die 1968er-Bewegung.
Die auch Sie umtrieb?
Ja, und da ist das Thema Nazi-Vergangenheit für mich erstmals virulent geworden. Meine Schwester und ich haben unsere Eltern massiv angegriffen, haben gefragt: „Was habt ihr gemacht?“. Darauf haben meine Eltern eher hilflos abwehrend reagiert. Aber letztlich war das keine echte Diskussion, keine Frage, auf die wir eine persönliche Antwort erwarteten. Es war eher ein politischer Frontalangriff, der die Empörung, aber auch die Selbstgerechtigkeit der 1968er-Bewegung zum Ausdruck brachte. Es ist schon eigenartig, dass wir weder damals noch später konkret fragten. Denn eigentlich war die Kriegsgeschichte meines Vaters immer diffus dabei.
Inwiefern?
Ich habe es lange so dargestellt, wie es üblich war unter uns 1968ern: „Geschichtsunterricht bis zum Ersten Weltkrieg, absolutes Schweigen in der Familie, auf kritische Nachfragen kamen Plattitüden“. Aber als ich anfing, mich ehrlich damit zu befassen, merkte ich, dass es so pauschal nicht stimmte. Sondern dass der Krieg immer präsent war – angefangen damit, dass wir unseren beinamputierten Vater täglich mit seinen Holzprothesen erlebten. Ich kann auch nicht sagen, dass mich seine Vergangenheit nicht interessiert hätte. Aber ich habe es nie als echte Frage formuliert.
Auch nicht, als Sie auf dem Speicher sein SS-Abzeichen fanden?
Nein. Ich habe es meiner Mutter gezeigt, die sagte, ich solle es lieber nicht herumzeigen oder darüber reden. Aber sie war auch nicht besonders aufgeregt. Dann hat sie es an sich genommen und vermutlich weggeworfen. Da hätte ich ja nachbohren können.
Wie alt waren Sie damals?
Ungefähr zehn. Aber auch als 20-jährige Studentin habe ich nicht gefragt, auf einer Autofahrt mit meinem Vater nach Bregenz zu meinem Onkel. Der Onkel war als einstiger Chef des Einsatzkommandos 6 auf der Flucht vor Strafermittlungen. Auch ihn habe ich nie gefragt.
Warum nicht?
Meine Familienloyalität war so groß, dass ich unkritisch die Empörung über die „Ungerechtigkeit“, die dem Onkel widerfuhr, geteilt habe. Und auf jener Autofahrt habe ich mit meinem Vater wohl allgemein über Nationalsozialismus gesprochen. Ich erinnere mich, dass er sagte: „Wir dachten, wo gehobelt wird, da fallen auch Späne.“ Ich habe auch da nicht weiter gefragt: „Was hieß das, bezogen auf deine damalige Situation?“
Werfen Sie sich das heute vor?
Ja. Ich empfinde mein Schweigen als Feigheit, und das werfe ich mir vor. Es fällt mir aber auch keine Frage ein, mit der ich ein für uns beide erträgliches Gespräch hätte anregen und durchhalten können. Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn er zum Beispiel versucht hätte, sich zu rechtfertigen oder gar reinzuwaschen. Insofern bin ich andererseits auch froh, dass wir nicht darüber gesprochen haben.
Heute befassen Sie sich intensiv mit der Nazizeit. Seit wann?
Meine eigentliche, fast obsessive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus begann nach dem Tod meines Vaters. Dieser Zusammenhang ist mir erst kürzlich klar geworden. Aber es ist ja bekannt, dass es so etwas gibt wie eine unbewusste Übertragung von Schuld auf die nächste Generation. Bis heute erlaube ich mir kaum, etwas anderes zu lesen, weil ich denke, ich muss dieses Thema immer weiter bearbeiten.
Gehörte zu dieser Bearbeitung auch Ihr „Aktion Sühnezeichen“-Jahr in einer Gedenkstätte im französischen Perpignan?
Ja, das war 2007, kurz nachdem ich von der Täterschaft meines Vaters erfahren hatte. Während meiner Zeit dort habe ich durch eine Ausstellung in Paris auch erstmals erfahren, was die SS-„Einsatzgruppen“ in Osteuropa konkret taten. Dass sie von Dorf zu Dorf zogen und alle Juden, die sie fassen konnten, erschossen. Als mir klar wurde, in welchem Milieu sich mein Vater – freiwillig – bewegt hatte, hatte ich vor Entsetzen erst gar kein Gefühl. Dann dachte ich: Aha, das war also die „russische Front“, an die er sich gemeldet hatte.
Wo verorten Sie sich heute? Haben Sie das Gefühl, die Schuld Ihres Vaters mitzutragen?
Ja, das ist ganz stark. Das habe ich lange Zeit nicht begriffen und wollte einfach nur genau wissen, was damals passiert war. Ich konnte nicht mehr mit dem Gefühl leben, dass da etwas Dunkles, vielleicht Verbrecherisches mit meinem Vater war. Ich wollte der Wahrheit ins Gesicht blicken. Allerdings dachte ich, ich täte das für mich und meine Geschwister, vielleicht für meinen Sohn und Enkel – alle, die es wissen wollen. Als ganz persönliche Angelegenheit.
Wann hat sich das geändert?
Auf der Konferenz 2014 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, wo sich Historiker und Täter-Nachfahren trafen. Da habe ich zum ersten Mal begriffen, dass das Thema nicht nur eine persönliche Dimension hat. Sondern dass es auch gesellschaftlich und politisch bedeutsam sein kann, wenn sich möglichst viele Menschen ihrer Familiengeschichte im Nationalsozialismus stellen.
Warum?
Weil nicht nur die Täter ihre Verbrechen in ihre Familien getragen haben: Auch was die vielen Soldaten an Verbrechen sahen und nach Hause brachten, ist ja nicht verschwunden. Das tragen auch wir Nachkommen mit uns herum, und es muss raus, damit eine Gesellschaft wirklich demokratisch werden kann und die Schlacken der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus, des Antisemitismus ablegt.
Meinen Sie mit „Rauslassen“, es öffentlich zu machen?
Es bedeutet erst mal, dass man es selber anguckt. Dann aber auch, die Dinge und Personen beim Namen zu nennen. Allerdings fällt es mir immer noch schwer: den Namen meines Vaters vollständig auszusprechen und zu sagen: Er war ein Täter.
Peter Kroeger.
Ja. Ich sehe inzwischen ein: Es gehört zur Wahrheit, dass man auch den Namen sagt. Aber ich habe immer noch das Gefühl, dass es nicht anständig ist: die verbrecherische Seite eines Verstorbenen, den ich zu Lebzeiten nicht zu fragen wagte, öffentlich bekannt zu machen.
Es könnte andere ermutigen.
Ja, und das habe ich erstmals begriffen im Neuengammer Begegnungsseminar 2014, in dem sich Nachkommen von Verfolgten und von Tätern trafen und ihre Geschichten erzählten. Bis dato dachte ich, dass Gespräche der Kinder und Enkel nichts Erhellendes mehr beitragen können. Erst als ich mich selber als Betroffene erlebte, begriff ich, wie notwendig sie sind und wie entlastend sie sein können.
Inwiefern?
Nach einer Podiumsdiskussion zwischen Täter- und Opferkindern in Neuengamme stand Jean-Michel Gaussot auf, der Sohn eines französischen Häftlings. Er sagte, ihm sei klar geworden, dass auch die Nachkommen der Täter eine Last tragen. Aber das müsse nichts Trennendes sein, sondern eher eine Gemeinsamkeit: Weder hätten die Opfernachkommen Grund, sich der Taten ihrer Väter zu rühmen, noch müssten sich die Täternachkommen schuldig fühlen. Beide trügen schwer an diesem familiären Erbe, und das könnte eine gemeinsame Erinnerungsarbeit begründen.
Wie haben Sie sich da gefühlt?
Wunderbar leicht, es war wie eine Befreiung. Gleichzeitig wurde mir bewusst: Da ist wohl doch ein Schuldgefühl, das ich vorher nicht wahrgenommen habe, das sich jetzt lösen konnte in dieser versöhnenden Geste.
Hält dieses Gefühl an?
Es ist schon so, dass ich mich immer wieder noch schäme. Das wird wohl immer so sein. So etwas wirft man nicht einfach ab.
Was müsste passieren, damit Sie Ihren Frieden machen können mit Ihrem Vater?
Mit seinen Taten und seinen Lügen werde ich das niemals können. Und was den Menschen betrifft: Wenn ich an meinen Vater denke, stehen zwei Personen nebeneinander: Einmal derjenige, den ich kenne. Daneben, unverbunden, der andere, eine eher schattenhafte Figur. Bisher gelingt es mir nicht, beide übereinander zu legen. Intellektuell schaffe ich es zwar manchmal, aber emotional nicht. Zu akzeptieren, dass sich in einem Menschen beides mischt, fällt mir sehr schwer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen