Naturdokus im Kino: Dem Insekt ins Auge blicken
„Der wilde Wald“ von Lisa Eder und „Das Tagebuch einer Biene“ von Dennis Wells nähern sich der Natur von ganz verschiedenen Seiten.
Was für ein Bild machen wir uns von der Natur? Zwei Dokumentarfilme, die gerade gleichzeitig ins Kino kommen, zeigen, wie unterschiedlich die Perspektiven sein können, aus denen mensch sich der uns umgebenden Fauna und Flora nähert. „Das Tagebuch einer Biene“ von Dennis Wells nimmt sehr konsequent eine Mikroperspektive ein, erkundet einen Kosmos, in dem alles unglaublich viel kleiner ist als in unserer Menschenwelt, und begibt sich auf Augenhöhe mit einem Insekt.
Ganz anders „Der wilde Wald“ von Lisa Eder: Darin richtet die Filmemacherin den Blick auf die weitläufige Landschaft des Nationalparks Bayerischer Wald, spürt vor allem dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur nach und fragt danach, wie weit unsere Akzeptanz für das „Wilde“ geht. Es sind zwei filmische Perspektiven, die sich diametral unterscheiden.
Kurz ist es, das Bienenleben. Gerade einmal sechs bis sieben Wochen lebt eine Sommerbiene. Die Winterbienen, die im Herbst schlüpfen und im Stock überwintern, leben deutlich länger, mehrere Monate. Diese Winterbiene lernen wir zuerst kennen in „Tagebuch einer Biene“. Sie kann sprechen, und das sogar mit der Stimme von Anna Thalbach. Das Skript ist in Ichform verfasst, denn dies ist ja ein „Tagebuch“.
„Der wilde Wald“. Regie: Lisa Eder. Deutschland 2021, 89 Min.
„Tagebuch einer Biene“. Regie: Dennis Wells. Deutschland 2020, 92 Min.
Beide ab 7. 10. im Kino
Es ist schon ziemlich viel, was die erwachsene Zuschauerin da schlucken muss an Vermenschlichung des Insekts; aber wenn man das Projekt unter dem Label „Familienfilm“ betrachtet, ist diese Vorgehensweise prinzipiell vertretbar. Das Identifikationsangebot ist definitiv kindgerecht, und die Thalbach-Bienen (als Sommerbiene agiert Nellie Thalbach) wirken ungemein sympathisch, wie sie so aus ihrem arbeitsreichen Leben erzählen. Dieses lernen wir dadurch aus erster Hand kennen. Wir erleben das Schlüpfen des Sommerbienchens ebenso hautnah wie das Abenteuer des ersten Honigflugs und das große Drama, als das kleine Tier draußen vom Regen erwischt wird.
Sensationelle Bilder
Die Bilder, die Dennis Wells und sein Kameramann Brian McClatchy dazu eingefangen beziehungsweise erarbeitet haben, sind sensationell in ihrer mikroperspektivischen Detailliertheit. Allerdings sind Teile des Films, wie aus dem Nachspann hervorgeht, animiert. Bei manchen Dingen musste der Natur nachgeholfen werden.
Es gibt Dinge, die man schlicht nicht filmen kann (zum Beispiel den Moment, in dem die Biene sticht), was den Film als „Naturdoku“ auf jeden Fall disqualifiziert und was man generell fragwürdig finden kann – ebenso wie den reichlich kitschigen Soundtrack, der sowohl mit Streicherteppichen sehr verschwenderisch umgeht als auch die lautliche Verstärkung des Bienenflügelschlags hemmungslos übertreibt.
Auch die unfassbar idyllische Landschaft, in der der Bienenstock steht, ist zweifellos einem Bildbearbeitungsprogramm zu verdanken. Den Stock ausgerechnet unter einen Baum zu stellen, der aussieht, als habe Caspar David Friedrich persönlich ihn gemalt, setzt dem Kitsch die Krone auf. Aber nun gut, eine Menge über das Bienenleben gelernt haben wir trotzdem.
Es ist allerdings nicht leicht, an Caspar David Friedrich vorbeizukommen, wenn es um das Bild geht, das wir uns von Natur machen. Auch in Lisa Eders „Der wilde Wald“ gibt es eine Schlüsselszene, die ein Bild des Meisters der Romantik evoziert, hier den „Wanderer über dem Nebelmeer“. Doch Eder inszeniert die Szene völlig anders, nicht als gefühlige Imitation, sondern als doppelte Projektion dessen, wie der Mensch sich selbst in der Landschaft wahrnimmt.
Wilder Bayerischer Wald
Ein wiederkehrendes Element in ihrem Film sind Szenen mit dem Fotografen Bastian Kalous, der allein zu Fuß den gesamten Bayerischen Wald durchquert und sich dabei in gestellten Szenen mit einer Polaroidkamera selbst fotografiert: inszenierte Momente der Einsamkeit in der, vielleicht auch des ersehnten Einsseins mit der Natur. Und beim Bayerischen Wald handelt es sich um eine Art von Natur, die einem Begriff von „Wildnis“ immerhin zunehmend näherkommt.
Seit 1970 ist das Gebiet, zusammen mit dem Böhmerwald auf der anderen Seite der deutsch-tschechischen Grenze, ein Nationalpark; also ein Naturschutzgebiet mit weitreichenden Konsequenzen. Die Natur wird hier seitdem sich selbst überlassen, weder Sturmschäden noch Trockenschäden werden von Menschenhand beseitigt. Mehr noch: „Und dann war es zu entscheiden, den Borkenkäfer fressen zu lassen“, wie der ehemalige Nationalparkleiter Hans Bibelriether es im Interview nüchtern formuliert. Das war eine sehr weitreichende Entscheidung, mit der er sich den geballten Volkszorn einhandelte.
Eder zeigt Archivaufnahmen, in denen die wütende ortsansässige Bevölkerung mit „Bibelriether weg!“-Transparenten für „ihren“ Wald demonstriert. Berghänge über Berghänge voller toter Bäume, das ging ans Herz und an die Nieren. Vor wenigen Jahrzehnten konnten die meisten Menschen sich nicht vorstellen, dass die Natur sich ihr Terrain zurückerobern würde.
Im Nachhinein betrachtet sei die Verjüngung des Waldes aber sogar schneller gegangen als erwartet, sagt eine Expertin im Film. Luftaufnahmen belegen, wie zwischen alten toten Stämmen überall kräftiges Grün nachgewachsen ist.
„Bad bugs“, Luchse und Wölfe
Es besteht nun einerseits die Hoffnung, dass die nachgewachsenen Bäume sich als resistenter gegen den Borkenkäfer und andere Unbill erweisen als ihre Vorfahren. Zum anderen, sagt die amerikanische Entomologin Diana Six, müssten wir uns eben darauf einstellen, dass der Wald sich verändern werde. Wir hätten den Klimawandel vorangetrieben und damit unter anderem auch dem Treiben des Borkenkäfers Vorschub geleistet: „It’s not just the bad bug. It’s us!“
Und dann gibt es noch die Diskussionen über das größere Getier. Wölfe sind eingewandert in die Region; und aus Tschechien, wo sie gezielt ausgewildert wurden, sind auch wieder Luchse gekommen und haben eine neue Population gegründet. Auch der Zunahme dieser Raubtierpopulationen stehen viele Menschen skeptisch gegenüber. Immerhin habe man den Wolf oder den Bären vor hundert Jahren doch nicht ohne Grund ausgerottet, sagt ein Mann, der sich am Rande eines eigentümlichen Volksfests vor der Kamera befragen lässt.
In den Film eingegangen sind Szenen vom traditionellen Wolfsaustreiben in Bodenmais, einem dreihundert Jahre alten, von infernalischem Krach begleiteten Brauchtum, bei dem ausschließlich Männer mitwirken und dessen lautstarker Furor ahnen lässt, aus welcher Urangst heraus der martialische Antiwolfsmarsch einst entstanden sein muss.
Lisa Eder lässt alle Stimmen zu Wort kommen, als Kronzeugen aber fungieren jene, die an die selbstorganisierenden Kräfte der Natur glauben. Interviews, Archivaufnahmen und herrliche Naturbilder wechseln sich ab. Und zwischendurch immer wieder der Fotograf Bastian Kalous auf der Suche nach der wahren Natur oder nach sich selbst oder nach dem nächsten ästhetisch wertvollen Selfie. Der Mann mit dem Wanderhut und der großen Kamera fungiert als Stellvertreter für uns alle in diesem vielschichtigen Film, der zeigt, dass „die Natur“ oder „das Wilde“ auch immer das ist, was der Mensch dazu macht.
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