Nato-Beitritt von Schweden und Finnland: Angst vor Erdoğans langem Arm
Die Einigung mit der Türkei über den Nato-Beitritt der Nordländer verunsichert vor allem KurdInnen. Sie fürchten weniger humanitäre Hilfeleistungen.
Auf Wunsch der Türkei soll dieser Punkt dann nämlich auch Bestandteil des Beitrittsprotokoll werden, das vermutlich am Dienstag unterzeichnet wird und das die Basis für die Ratifizierung des Beitrittsabkommens mit Finnland und Schweden in den Parlamenten der 30 Nato-Mitgliedsländer sein wird. Auslöser für den Beitritt der beiden Länder ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Derweil geht die Debatte um die Frage, worauf sich Schweden, Finnland und die Türkei mit ihrem vergangene Woche unterzeichneten Abkommen eigentlich geeinigt haben, weiter. Hat sich Schweden verpflichtet, „73 Terroristen“ auszuliefern, wie Präsident Recep Tayyip Erdoğan behauptet? Oder hat sich im Prinzip überhaupt nichts geändert, wie Schwedens Ministerpräsidentin Magdalena Andersson treuherzig versichert?
Die unterschiedlichen Botschaften haben die Unsicherheit unter den in Schweden und Finnland lebenden KurdInnen jedenfalls nicht vermindert. Im Gegenteil. „Es gibt da eine große Unruhe“, sagt Yekbun Alp, die Mitglied im Parteivorstand der schwedischen Linkspartei ist. Man habe zwar damit gerechnet, dass Schweden einen Preis zahlen werde, um die Nato-Blockade der Türkei aufzuheben. Beispielsweise ein Verbot der PKK-Flagge oder Beschränkungen bei prokurdischen Demonstrationen. Die Zugeständnisse, zu denen die Regierung in Stockholm dann aber bereit war, seien aber noch schlimmer: „Man macht sich faktisch zum Teil von Erdoğans Kampf gegen angebliche Terroristen.“
Schweden habe sich in eine „zutiefst unglückliche Situation“ hineinmanövrieren lassen, beklagt auch Thomas Hammerberg, der Ex-Vorsitzende der schwedischen Sektion von Amnesty und ehemaliger Menschenrechtskommissar des Europarats. Wenn die schwedische Regierungschefin die Unterstützung ihres Landes für den Kampf gegen den Terrorismus betone, komme das in der türkischen Perspektive „als Unterstützung der Inhaftierung von Oppositionsabgeordneten, gewählten Lokalpolitikern, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten“ an.
Ein „Sündenfall“
Ein regelrechter „Sündenfall“ sei vor allem das Versprechen, die syrisch-kurdische YPG/PYD, nicht mehr zu unterstützen, betont Hammerberg. Wenn Finnland und Schweden dort keine humanitäre Hilfe mehr leisten, habe das ernsthafte Auswirkungen auf die in dieser Region lebenden 5 Millionen Menschen, befürchtet auch Shiyar Ali, der in Skandinavien die kurdische Selbstverwaltung im nordöstlichen Syrien repräsentiert.: „Das ist tragisch, das kann viele das Leben kosten.“
Es gebe manche beschämende Kapitel in der schwedischen Geschichte, heißt es in einem Aufruf mehrerer RechtsanwältInnen in der Tageszeitung Aftonbladet. Sie warnen davor, eine mögliche Auslieferung von KurdInnen zu einem neuen solchen Kapitel werden zu lassen.
Die schwedische Migrationsbehörde und der Verfassungsschutz Säpo hätten schon in der Vergangenheit Ausweisungen angeordnet, „nur weil Menschen mit der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung in Verbindung gebracht wurden, ohne dabei irgendwelche Straftaten begangen oder gar der Planung verdächtigt worden zu sein“.
In ihrem Abkommen mit der Türkei verpflichte sich Stockholm dazu, „in größerem Umfang als bisher Menschen mit Verbindungen zur kurdischen Unabhängigkeitsbewegung und zur türkischen Opposition auszuweisen“. Und das, obwohl das schwedische Außenministerium in einem im vorigen Jahr veröffentlichtem Türkei-Bericht von 27.493 dokumentierten Fällen von Misshandlungen und Folter in den Jahren 2002 bis 2020 spreche.
Shiyar Ali glaubt zwar nicht, dass sich Erdoğan realistische Hoffnungen bezüglich der Auslieferung von Oppositionellen mache, doch allein das Signal ist zu verurteilen. „Mein spontaner erster Gedanke war, nun beugt sich Schweden der Diktatur“, sagt er.
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