Nachruf auf tunesische Bloggerin: Die mit den Superkräften
Lina Ben Mhenni berichtete 2011 als eine der Ersten über die Anfänge des Arabischen Frühlings. Nun ist die tunesische Bloggerin verstorben.
Das ist also Lina Ben Mhenni. Irgendwie wollte diese eher schüchtern wirkende Frau nicht so recht zu dem Bild passen, das ihre energische Stimme am Telefon suggerierte. Diese Stimme, die in den letzten Tagen unter Diktator Ben Ali von Zentraltunesien aus Rede und Antwort stand. Von den Orten, wo die Polizei mit Härte gegen die meist jugendlichen Protestierenden vorging. Mit ihrer Kamera und ihrem Notebook begleitete die Anglistin die Proteste nach der Selbstverbrennung des Händlers Mohammed Bouazizi in der Stadt Sidi Bouzid, die schließlich am 14. Januar 2011 zum Ende der 23-jährigen Diktatur führten. Und die Anstoß zu dem gaben, was mittlerweile Arabischer Frühling genannt wird.
Ben Mhenni hatte Polizeieinsätze fotografiert, Verletzte im Krankenhaus besucht, Beerdigungen dokumentiert und alles auf ihrem Blog „A Tunisian Girl“ und auf sozialen Netzwerken verbreitet. Veröffentlicht hatte sie direkt im Netz. Was aus heutiger Sicht Standard für Journalisten ist, fand damals, im Jahr 2011, viel Beachtung. Es war die Zeit, als Blogger gerade für die Berichterstattung relevant wurden. Als soziale Medien anfingen, als Plattformen für Protest genutzt zu werden.
Jetzt saß Ben Mhenni also in der Ecke eines Menschenrechtsbüros in der Hauptstadt Tunis, das zwei Tage nach Ende der Diktatur seine Pforten wieder geöffnet hatte. Sie war kurz zuvor aus Sidi Bouzid und Kasserine zurückgekommen. Erstmals traf sie persönlich auf einige der internationalen Journalisten, denen sie per Handy ihre Eindrücke übermittelt hatte. Ihre Telefonnummer war von Oppositionellen im Exil bereitwillig weitergegeben worden. „Lina“, meldete sie sich fast immer sofort, trotz Angst vor der Polizei. So wurde Ben Mhenni zur „Stimme der tunesischen Revolution“ und damit des Arabischen Frühlings.
Auch nach dem Sturz des Regimes war die Tochter eines oppositionellen Ehepaars – Vater Beamter, ehemaliger politischer Gefangener und Mitbegründer von Amnesty International im kleinsten, nordafrikanischen Land; Mutter kritische Gymnasiallehrerin – immer in der ersten Reihe, schrie, fotografierte und schrieb auf Arabisch, Französisch und Englisch. Ihr Buch „Vernetzt Euch!“ über die Rolle des Internets bei der Jugendrevolte wurde in viele Sprachen übersetzt. Sie erhielt Preise, darunter den Blog Award der Deutschen Welle, sogar für den Friedensnobelpreis war sie im Gespräch. Sie besuchte weltweit Konferenzen, empfing die taz-Reisenden und referierte auf dem taz-Lab.
Hoffnung und Frust
Es waren Monate der Hoffnung auf ein demokratisches, modernes Tunesien. Doch bald schon folgte der Frust. Die Islamisten gewannen die ersten freien Wahlen. Der Fortschritt fiel weit geringer aus als erwartet. Die Jugendbewegung wurde an den Rand gedrängt. Ben Mhenni wurde Ziel übelster Beschimpfungen im Netz.
Aufgegeben hat sie dennoch nie. Sie setzte sich für die Opfer der Revolution und deren Angehörige ein, kämpfte für Meinungsfreiheit und demokratische Grundrechte.
2007 war ihr eine Niere transplantiert worden. Zeiten bester Gesundheit wechselten mit Rückschlägen, in den letzten Monaten immer häufiger. Einer ihrer letzten Facebook-Einträge lautet: „Ich wurde gefragt: Was ist deine Superkraft? Ich antwortete: Überleben. An Silvester wurde ich gefragt: Was sind deine Pläne für 2020? Ich antwortete: Überleben. Ja, Überleben ist deine Superkraft, ganz besonders wenn du gegen eine chronische Krankheit kämpfst. Ich überlebte 25 Jahre lang Lupus und andere ernsthafte Gesundheitsprobleme. Ich überlebte eine Diktatur und die Scheinheiligkeit und den Wahnsinn, die mein Land nach 2011 befallen haben.“
Das galt bis Montag. Am 27. Januar hat die Superkraft Lina Ben Mhenni im Alter von nur 36 Jahren für immer verlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin