Nachruf auf Wohnungslosen Gero W.: Die Apotheke war seine Bank
Gero W. war bekannt wie kaum ein anderer Wohnungsloser in Berlin. Wenn ihm vermeintliches Unrecht geschah, setzte er sich zur Wehr.
Keiner in der Obdachlosenszene hatte so eine große Klappe, war so gnadenlos kompromisslos wie er. Vor allem, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte, kannte Gero nichts. Er war ein zäher Knochen, aber irgendwann fordern das Leben auf der Straße, der Drogen- und Alkoholkonsum seinen Preis. Am vergangenen Dienstag ist Gero im Krankenhaus Köpenick gestorben. Er wurde 60 Jahre alt.
Ein trockengelegter Junkie auf Ersatzstoff sei er und in Berlin wohl der Mensch mit den meisten Hausverboten, sagte Gero über sich. Vor allem Kreuzberg, aber auch Neukölln und Wedding waren seine Welt. Aus Discountern, Bahnhöfen und Sozialeinrichtungen wurde er vertrieben. Obdachlosenunterkünfte waren ihm eine Pest. Die Nächte verbrachte er auf Parkbänken, in Häusernischen oder in Vorräumen von Banken.
Am Ende war sein Radius stark eingeschränkt. Selbst in der Mozart-Apotheke in der Wiener Straße und in der Tagesstätte für Wohnungslose „Am Wassertor“, die wenigen Ankerpunkte in seinem Leben, ward er in den Wochen vor seinem Tod nicht mehr gesehen.
Früher, als es ihm noch besser ging, kam Gero auch in die taz. Irgendwann nach 2005, er hatte zuvor eine längere Haftstrafe wegen Heroinhandels verbüßt, schlug er in der Rudi-Dutschke-Straße auf. Von da an kam er regelmäßig, um sich die aktuelle Zeitung zu holen. Wenn er meinte, das Kantinenpersonal sehe es nicht, packte er auch noch die übrige Tagespresse ein. Auf den Sportteil der Süddeutschen Zeitung war der bekennende Schalke-Fan besonders scharf. Lesen war sein Liebstes.
Lautstark forderte er journalistischen Beistand, wenn die Justiz mal wieder hinter ihm her war. So kam es, dass die Autorin zu seiner Ansprechpartnerin wurde. Mehrere Artikel über Gero sind im Laufe der Jahre erschienen. Auch einen Kurzfilm in der Serie „berlinfolgen“ produzierten taz und 2470media über ihn. Sein Porträt ist das meistgeklickte der 100-teiligen Serie.
Über sein früheres Leben hat Gero wenig erzählt. Geboren in Gelsenkirchen, dort Abitur gemacht; sein bestes Fach sei Latein gewesen. 1978 kam er nach Berlin, an der Freien Universität habe er Jura studiert, sei aber zweimal durchs Staatsexamen gefallen. Er habe die Logik nicht verstanden, „die Rechtswissenschaft hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun“. Mit Anfang 20 habe er angefangen zu junken, Liebeskummer nannte er als Auslöser.
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Manchmal, wenn er in die taz kam, hatte Gero eine kleine weißhaarige Frau im Schlepptau. „Silberpappel“ nannte er die gebürtige Türkin, die 20 Jahre älter war als er. Es war ein Mutter-Sohn-Verhältnis. Sie habe ihn auf einer Parkbank angesprochen, erzählte Gero. Sie stand unter Vormundschaft, hatte aber im Wedding eine kleine Wohnung. Immer öfter durfte er bei ihr duschen und auf dem Sofa schlafen. Es wurde ein Dauerzustand.
Sie wusch und flickte seine Wäsche, er passte auf sie auf, wenn sie zum Szenetreffpunkt am Kottbusser Tor gingen, „damit nicht alle ihren Tabak schnorren“. Silberpappel hatte einen Putzfimmel, die Straße, die Scheiben am U-Bahnhof, alles kam dran, immer hatte sie einen Besen und einen Lappen dabei.
Gero saß oft im Knast. Zuerst wegen Drogenhandels, dann wegen kleiner Delikte, die sich summierten. Beleidigung, Widerstand, Hausfriedensbruch. Mal hatte er sich geweigert, einen Bahnhof zu verlassen, auf dem er Hausverbot hatte. Oder er hatte BVG-Leute und Polizisten als „faschistoide Lümmels“ bezeichnet.
Auch dass er bei Aldi eine Sonnencreme geöffnet und sich das Gesicht eingeschmiert hatte, wurde angeklagt. Aus den Bewährungsstrafen wurden irgendwann Gesamtfreiheitsstrafen gebildet, die er absitzen musste. Wenn er im Gefängnis war, stapelte sich bei ihm die halbe Knastbibliothek.
Einmal – er hatte es geschafft, sich an der taz-Pförtnerloge vorbeizuschummeln – stand Gero neben dem Schreibtisch der Autorin. Nach Alkohol riechend, eine geöffnete Bierflasche in der Hand, wedelte er mit einer neuen Ladung zu einem Gerichtstermin; wieder die üblichen Vorwürfe. Aus dem Begleitschreiben ging hervor, dass in dem Prozess auch seine Einweisung in die Psychiatrie geprüft werden soll, „zum Schutz der Allgemeinheit“. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Gutachten über ihn in Auftrag gegeben.
Als Einzige im Gerichtssaal: die Wachtmeister und die taz
Die einzigen Zuschauer bei diesem Prozess waren die Saalwachtmeister und die taz. Mit spitzen Fingern waren Geros Taschen zuvor am Eingang durchsucht worden. Drei Flaschen Bier wurden vorläufig einkassiert. Gero war empört, beschimpfte die Beamten aber immerhin nur als „Lümmels“.
Als die Staatsanwältin die Anklageschriften verlas, wirkte er einen Moment lang verunsichert. Die Taschen auf dem Boden verstreut, rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Gero W. habe einen BVG-Beamten zu beißen versucht, trug die Staatsanwältin vor. Die Wachtmeister im Saal guckten entsetzt. Gero indes fuhr von seinem Stuhl hoch. „Wie kann ich mit sechs Zähnen im Mund beißen?“, schrie er aufgebracht.
Wenn ihm vermeintliches Unrecht geschah, mobilisierte der schmächtige Mann Bärenkräfte. Zu mehreren hätten die Zeugen anpacken müssen, um den wild um sich Tretenden aus dem Bahnhof zu befördern, hieß es in der Anklage.
Gero wurde nicht psychiatrisiert. Der Amtsrichter machte es kurz und verhängte eine weitere Bewährungsstrafe. Auf dem Weg zum Ausgang, zu seinem Bier, hatte Gero schon wieder Oberwasser. Der Richter, „ein Karrierejurist“, habe doch nur „schnell mit seinem Kleinwagen in die nicht bezahlte Eigentumswohnung abdüsen wollen“.
So war Gero. Er ging voll in der Rolle des gesellschaftlich Geächteten, des „Untermenschen“, wie er sagte, auf. Schuld waren immer die Anderen. Aber er durchschaute die Mechanismen der Ausgrenzung total, brachte die Dinge brutal auf den Punkt. Sein Gegenüber frappierte er damit immer wieder.
Gero war ein Einzelkämpfer, aber es gab ein paar Menschen, auf die er zählen konnte. Am wichtigsten seien ihm Silberpappel und „der Junge“, der sein Geld aufbewahre, sagte er mal. Gemeint war Ralf Wittenbröker, Inhaber der Mozart-Apotheke in der Wiener Straße. Den kannte er seit den 1990er Jahren.
Gero lebte von Grundsicherung, die er direkt beim Amt abholte. Daneben erhielt er 150 Euro Unfallrente. Weil er kein Girokonto hatte, floss die Rente auf Wittenbrökers Konto. Der zahlte Gero die Summe dann in Beträgen von 10 oder 20 Euro aus, auch auf Vorkasse, weil das Geld meistens vor Monatsende alle war.
„Harmonisch war die Beziehung nie, eher eine Hassliebe,“ nennt es Wittenbröker. Wäre Gero nicht so ein Schlauer gewesen, hätte er das nicht so lange ausgehalten. Fast täglich sei der in die Apotheke gekommen, auch zum Aufwärmen, er habe ja überall Hausverbot gehabt.
„Wenn er da war, quatschte er die Kundschaft voll und erzählte einen vom Pferd.“ Einmal, erinnert sich Wittenbröker, habe er Gero vor die Tür gesetzt. Daraufhin habe sich der vor dem Schaufenster aufgebaut und sein Genital aus der Hose geholt. „Er musste immer das letzte Wort haben.“
Gero gefiel es zu schocken. Auch aus der taz-Kantine flog er einmal raus und zeigte aus Protest seinen Schwanz vor. Fragt man beim Personal nach, heißt es, Gero habe deshalb Hausverbot bekommen. Stimmt nicht, sagt Sigrid Renner, Chefin der Kantine. Aber sie habe sich Gero ordentlich vorgeknöpft. Beinahe schuldbwusst habe der dann geholfen, das Geschirr abzutragen.
Seit dem Umzug in das neue Redaktionsgebäude in der Friedrichstraße Ende 2018 wurde Gero in der taz nicht mehr gesehen. „In die Luxusbude komme ich nicht“, hatte er Renner angekündigt.
Vielleicht lag es auch daran, dass er immer hinfälliger wurde. Ungefähr zeitgleich kam Silberpappel ins Pflegeheim, danach lebte er wieder ganz auf der Straße. Zunehmende Demenz, offene Beine, verschleppte Lungenentzündungen und kleine epileptische Anfälle führten zu längeren Krankenhausaufenthalten. „Manchmal fiel er auf der Straße einfach um“, sagt Wittenbröker. Am Ende sei er mit einem Rollator unterwegs gewesen.
Im Januar 2020 bekam Gero einen Platz im Heim für pflegebedürftige Wohnungslose in der Waldemarstraße. Zum Schluss hatte er dort sogar ein eigenes Zimmer. Vollkommen verwahrlost sei er gewesen und für alle eine große Herausforderung, sagt der Sozialarbeiter des Heims, Hartmut Schmidt.
Manchmal sei Gero wochenlang nicht aufgetaucht. Aber der Platz sei immer für ihn freigehalten worden, was keineswegs selbstverständlich sei. Geros Sachbearbeiter im Bezirksamt habe sich sehr für ihn eingesetzt.
Auf der Intensivstation
Gero war wieder unterwegs, als es geschah, so viel steht fest. Was genau passiert ist, weshalb er ins Krankenhaus Neukölln eingeliefert wurde und von dort nach Köpenick kam, ist nicht bekannt. Eine Sozialarbeiterin der DRK-Klinik hatte Doreen Glamann Anfang Januar informiert, dass er auf der Intensivstation liege und beatmet werde. Von Corona war nie die Rede.
Glamann leitet die Tagesstätte „Am Wassertor“, sie kennt Gero seit zehn Jahren. Mit warmen Worten spricht sie über ihn. Je mehr er abgebaut habe, umso schwieriger sei er gewesen. Überall sei er rausgeflogen, „bei uns war er immer willkommen“. Gero sei ein grundehrlicher Mensch, so ehrlich, dass viele das als Beleidigung empfunden hätten. Auch habe Gero sich immer für das Befinden anderer interessiert. Teile seines Essens habe er aufgehoben für Leute, denen es noch beschissener gehe als ihm. „Gero hat sich selbst als Ratte bezeichnet“, sagt Glamann. Um Ratten müsse man sich keine Sorgen machen, „die überleben überall“.
Ralf Wittenbröker wehrt ab, wenn man ihn fragt, ob er um Gero trauere. „Man darf das jetzt nicht verklären.“ Die Einzige, die wirklich um ihn weine, sei Silberpappel, sagt Wittenbröker. Regelmäßig habe Gero mit ihr von der Apotheke aus telefoniert.
Am Tag nach Geros Tod rief Silberpappel vom Pflegeheim aus in der Apotheke an. In den Wochen zuvor hatte sie immer wieder besorgt nach ihm gefragt. Nun hat es ihr Wittenbröker sagen müssen.
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