Nachruf auf Verleger Jörg Schröder: Puff und Suff gegen Muff
Jörg Schröder ist gestorben. Der legendäre Verleger und taz-Blogger wurde 81 Jahre alt. Sein MÄRZ-Verlag war eine wichtige Stimme der 68-Proteste.
Die Geschichte dieses literarischen Wirtschaftswunders beginnt 1944. In einem Berliner Bombenkeller sah ein Fünfjähriger, was Todesangst aus Menschen machte: Zitternde und Betende. „Für mich war das ein Abenteuer“, wird sich Jörg Schröder in seiner wahnwitzigen Lebensbeichte „Siegfried“ erinnern. Bei Erscheinen des Buches, 1972, war er längst berühmt-berüchtigter Verleger, grafisch denkender Visionär und Bankrotteur, den die Branche fürchtete, weil für ihn Leben und Literatur, Pop und Porno, Revolte und Rabaukentum zusammengehörten.
Nach Buchhändlerlehre und Werbefachschule machte Jörg Schröder Anfang der Sechziger Karriere bei Kiepenheuer & Witsch, dann im Melzer Verlag, den er mit dem Erotikbesteller „Die Geschichte der O“ sanierte. Er ließ Werke von Jack Kerouac übersetzen, sorgte dafür, dass Beatliteratur vom breiten Publikum wahrgenommen wurde. 1968 war das entscheidende Jahr, er gründete über Nacht den MÄRZ Verlag. Schon das Layout war sensationell: rote und schwarze Lettern auf knallgelbem Grund.
„Acid“ hieß die erste, von Rolf Dieter Brinkmann mit herausgegebene Anthologie: ein politisch-kulturelles Manifest mit Lyrik und Essays, Textmontagen, Porno, Comics und Interviews. Schröder setzte auf Grenzüberschreitungen, die Proteste verursachten, zudem Schulden, die, wie der Verleger verriet, auch durch „Suff und Puff“ entstanden.
Schlitzohrig, gewieft und radikal
Als Verleger agierte Schröder schlitzohrig, gewieft und radikal inkonsequent. Bei MÄRZ veröffentlichte er etwa „Die Reise“ von Bernward Vesper und das zigtausendfach verkaufte Aufklärungsbuch „Sexfront“ von Günter Amendt. Natürlich ging der Rausch nicht endlos weiter. Es folgten Herzinfarkte und Pleiten. Schröders literarisches Debüt „Siegfried“ war dann die wüste Abrechnung mit dem Literaturbetrieb. Bei Auslieferung lagen acht einstweilige Verfügungen dagegen vor. Jenseits juristischer Konflikte hatte er damit zur eigenen Literaturform gefunden, die ihn zu einem wichtigen Erzähler der Bonner Republik machte.
1982 erschien mit „Cosmic“ wieder ein unglaubliches Schröder-Buch. Es handelte von geheimen Atomraketen in der Provinz sowie der Verschränkung von Wahrheit und Lüge in der öffentlichen Meinung. Der Erzähler behauptete, er habe mit „Cosmic“ die Friedensbewegung initiiert.
Solche Heldentaten hat der sympathische Rechthaber über Jahrzehnte in seiner Reihe „Schröder erzählt“ beschrieben. Das schrecklich komische Monumentalwerk, zu dem auch Zeitungskolumnen und Blogeinträge gehören, konnte nur entstehen, weil das Erzähler-Ego in Barbara Kalender eine kongeniale Übersetzerin seiner Verbalvorläufe fand. Schwer vorstellbar, dass nun eine Hälfte dieses umtriebigen Verlegerpaars fehlen wird.
Jörg Schröder starb, wo er geboren wurde, am Samstag im Alter von 81 Jahren im Berliner Virchow-Klinikum.
Leser*innenkommentare
Jim Hawkins
Großartiges Interview mit Jörg Schröder in der konkret 6/04:
"Was heißt interessieren? Es interessiert mich in der Weise, wie einen ein Feuilleton immer interessiert. Man liest das sehr intensiv, und wenn man’s weglegt, ist es egal, ob man’s gelesen hat oder nicht. Deswegen heißt das ja Feuilleton."
www.konkret-magazi...wRJL57orf-ZGUulh30
Lowandorder
@Jim Hawkins Däh&Zisch - Mailtütenfrisch - merkt an -
“Schöner Tipp von J.H. - lesenswert.“
Indeed.
“Wahnsystem Feuilleton
Am 13. Juni ist Jörg Schröder, Publizist und Gründer des März-Verlags, gestorben. In konkret 6/04 sprach Jürgen Roth mit Schröder, der durch spektakuläre Publikationen und Aktionen für Wirbel sorgte und seit 1990 zusammen mi Barbara Kalender dreihundert Subskribenten mit der Serie »Schröder erzählt« beglückt hat, über den Literaturbetrieb und Skandale im Feuilleton.“
kurz - Danke - Danke - Danke
Lowandorder
In Erinnerung an eine feine Begegnung mit dem charmant-eloquenten ein Kugelmensch im Kunsthaus Rhenania. Wo mir Jörgen Schröder schmunzelnd erklärte.
Wie er mittels Veröffentlichungen im Netz - Versuche deren rechtlicher Unterbindung mittels einstweiliger Verfügungen erfolgreich - ausgebremst (hatte).
&
Dazu passend der Vortrag der mutigen hessischen Finanzsheriffs.
(“Entweder Sie übernehmen - wolltense doch,odr? - das Finanzamt in X.
Oder Sie stimmen Ihrer psychiatrischen Untersuchung zu!“)
Alle Verdächtigen am Start - Werner Rügemer usw.……
&
Unvergessen!!! - Lucys Lustbuch - ein so wie oben geretteter Porno-Comic.
Mit der so passenden FJS-Sentenz - “Gibt‘s hier wos Z‘ficken?“ - Ölprinz Rainer Candidus Barzel befragend auf dem Presseball. - 😱 - and a lot!! - 😎 -
Gute Reise Jörg Schröder. Du fehlst schon jetzt.
05158 (Profil gelöscht)
Gast
@Lowandorder Nur Trittbrettfahrer hier, aber entdeckt:
....... Die konsequent-intellektuelle Popästhetik, mit der Meysenbug den Agitprop verweigert, läßt auch der pornografischen Imagination keinen Raum. Oder, wie es der März-Verleger Jörg Schröder sagt: »Der Schwanz von Elvis ist eben kein anonymer Schwanz, da lacht man sich nur kaputt, wenn der dasteht mit diesem Riesenriemen.«......"
blogs.taz.de/schro..._fuer_einen_comic/
05158 (Profil gelöscht)
Gast
@05158 (Profil gelöscht) Ergänzung1:
Im Bild:
...DER NICHT SO BERÜMHMT WAR WIE SEINE STIMME, ABER EBEN SO SCHÖN....
Hier kommt wieder alles zusammen, Grafik und Schreibkunst!!!
Lowandorder
@05158 (Profil gelöscht) Klar - Alfred von Meysenbug -
So mußte erstmal heißen - kerr!
de.wikipedia.org/w...fred_von_Meysenbug
“ Alfred von Meysenbug (* 1. Januar 1940 in Gießmannsdorf, Niederschlesien; † 19. Februar 2020 in Hamburg[1]; bürgerl. Karl Alfred Freiherr von Meysenbug) war ein deutscher Comiczeichner der 68er-Generation.…
Meysenbug illustrierte das wirkungsmächtige Sexualaufklärungsbuch Sexfront von Günter Amendt, das seit 1970 in mehreren Auflagen mehr als 500.000 Mal verkauft wurde.“ - (März-Verlag)
& Däh
“ Für seinen 1991 veröffentlichten Comic Däumling wurde Meysenbug 1992 mit dem Rattenfänger-Literaturpreis der Stadt Hameln ausgezeichnet.“
Na bitte - 🥳 - Geht doch - 😈 -
05158 (Profil gelöscht)
Gast
@Lowandorder Interessanter Link.
Ist für mich, was die 60,70, Jahre anbelangt natürlich Neuland.
Der Text o.i. Bild fing ja auch so schön doppeldeutig an...hielt in ihren KLEINEN Händen....klar, ein Traum!
Jim Hawkins
Schröder hat kurz beim Aulendorfer Buchhändler Josef Rieck gearbeitet. Dieser, ein Katholik, hatte mit seiner kommunistischen Frau die Buchhandlung Ende der 30er-Jahre eröffnet. Im Nationalsozialismus hatte Rieck über den Laden Kontakt zu vielen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern und bildete so ein Netzwerk.
Die Zusammenarbeit mit Schröder verlief natürlich nicht immer reibungslos. Immer wenn es Zoff gab, musste Schröder mit Rieck zu einer Anhöhe in der Nähe spazieren und da wurde die Sache dann geklärt.
Unausgesprochener Vertragsbestandteil war die Zurverfügungstellung eines PKW, mit dem Schröder ins Bordell nach Ulm fahren konnte.
Ruhe in Frieden.