Nachruf auf Pädagogen Remo Largo: „Jedes Kind ist ein Unikat“
Remo H. Largo klagte die Schulen an, dass sie der Verschiedenheit von Kindern zu wenig gerecht werden. Ein Nachruf zum großen Autor und Pädagogen.
Remo Largo hätte nicht widersprochen, wenn ich seine Stimmung melancholisch nenne. Das hatte nichts mit persönlichem Optimismus oder Pessimismus zu tun. Nur war es ihm zeitlebens offensichtlich, dass unsere Lebensweise sich nicht als zukunftsfähig oder enkeltauglich erweist. Allein wenn er von seinem Haus oberhalb des Zürichsees auf die Gletscher blickte. Er hatte sie schon als Kind gesehen und geliebt.
Groß, erhaben und schön. Er sah, wie sie dahinschwanden. Zugleich waren Berge, Natur, Kinder starke Kontrapunkte zu der wachsenden Sorge, dass es mit unserem Weltverbrauch nicht gut gehen kann. Doch wenn Remo Largo keine Zuversicht gehabt hätte, wäre er nicht so unglaublich produktiv und nicht so mit der Welt befreundet gewesen.
Kaum jemand, der in den letzten Jahrzehnten Mutter oder Vater wurde, kennt eines seiner Bücher nicht. „Babyjahre“, „Kinderjahre“, „Jugendjahre“, sie gehören zu den einflussreichsten – und jetzt bleibt einem das Wort im Munde stecken – „Ratgebern“. Denn Ratgeber sind seine Bücher nicht. Und sie sind es doch.
„Als unsere Kinder klein waren,“ schrieb mir jetzt eine sonst nur mit Büchern befasste Freundin, „haben diese Bücher unmittelbar geholfen, von welchem Autor kann man das sagen?“ Remo Largo predigte keine Haltung. Er hatte eine. Aus seinen genauen, zuweilen überraschenden Beobachtungen an Kindern folgt so viel mehr als aus den schnellen Urteilen und Rezepten der immerzu schon Wissenden. Seine Antwort auf die Bitte um ein Kondensat seiner Studien: „Jedes Kind ist ein Unikat. Die Kinder kommen schon einmalig auf die Welt und werden im Laufe ihres Lebens immer verschiedener.“
Menschliche Grundbedürfnisse
Er stimmte ein hohes Lied auf die Einzigartigkeit eines jeden Menschen an. Und darauf, dass wir mit allen Lebewesen verwandt sind. So hieß sein letztes, in diesem Jahr erschienenes Buch „Zusammen leben“. Nach seinen über eine Million Mal verkauften Büchern über Kinder und Jugendliche machte er sich an eine Art Inventur der menschlichen Grundbedürfnisse und Kompetenzen. „Das passende Leben“ hieß sein vorletztes Buch.
Angesichts seiner düsteren Gedanken an die Zukunft könnte man an ein Testament für einen möglichen day after denken. Ein Arche-Noah-Projekt? Eher eine Arche Nova, die rechtzeitig in Umlauf gebracht, das Selbstverständliche, das nicht selbstverständlich ist, stärkt.
Wir kannten uns seit 15 Jahren. Waren befreundet, haben uns getroffen und regelmäßig telefoniert. Zuletzt entwickelte sich in den Gesprächen ein Sog dahin, für möglich zu halten, dass es tatsächlich und ganz konkret um solche Archen gehen könnte. Schulen, aus denen endlich Lebensorte werden sollten, in denen sich die Generationen treffen.
Vielleicht wäre es in diesen Schulen, in denen Zukunft entsteht, für uns Erwachsene ebenso wichtig, von Kindern zu lernen, wie dass sie von Erwachsenen lernen. Orte, um ganz gegenwärtig zu sein.
Von Kindern lernen
Kinder waren seine wichtigsten Lehrer. Sie haben ihm im Laufe der Zeit auch Demut beigebracht. Das begann für den Kinderarzt und späteren Hochschullehrer Mitte der 1970er-Jahre als er die Leitung der „Zürcher Longitudinalstudie“ übernahm. Für diese Langzeitstudie zur Kindesentwicklung wurden inzwischen 900 Kinder bis ins Erwachsenenalter beobachtet. Sie ist weltweit eine der umfangreichsten Studien dieser Art. An der Universitätsklinik blieb Remo Largo bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 Professor für Kinderheilkunde.
Seine Genauigkeit wies ihm Wege und unerwartete Standpunkte in dem häufig von Ideologen planierten Gelände der „Bildung“. Er klagte die Schulen an, dass sie der Verschiedenheit und Individualität so wenig gerecht werden. Bei all der Stofffülle – und wir waren uns einig, dass man den „Stoff“ den Dealern überlassen sollte – geizten sie mit guten Gelegenheiten für Kinder, selbst tätig zu werden.
Er klagte sie nicht dafür an, dass sie nicht jedes Kind mit Abitur entlassen. Denn die ursprüngliche Verschiedenheit – und dazu gehören auch Schwächen – ist im Kern nicht aufzulösen. Sie ist anzuerkennen. Mit ihr ist umzugehen. Und dann lässt sich auch aus Schwächen oft eine Stärke machen.
Es gibt so viele Möglichkeiten für das „passende Leben“, das ihn die letzten Jahren beschäftigte. Die Betonung liegt im Plural. Es gibt nicht die eine Form. Und auch zwei oder drei Prokrustesbetten nebeneinander aufzustellen hilft nicht weiter. Man erinnere sich: Prokrustes war in der griechischen Mythologie der Wirt, der seine Gäste entweder dehnte oder beschnitt, damit sie in sein Einheitsbett passten.
Autonomes Lernen
Für Kinder wirklich geeignete Schulen erwartete er erst, wenn diese „autonom“ würden. Schulen, die selbst lernen. Die verstehen, wie verschieden Kinder sind, damit jedes Kind auf seine Weise das tun kann, was alle Kinder ohnehin wollen: lernen. Man darf Lernen nicht länger zur passiven Seite von Belehrung stutzen und auf das Erreichen von Standards reduzieren.
Denn: „Kinder können nur dann eigene Lernstrategien entwickeln, wenn man sie lässt.“ Die Erwachsenen müssten für die Kinder einfach da sein. Selbstständigkeit und Individualität, das war sein Credo, entwickeln Kinder aus sicheren Bindungen.
Das passende Leben für die Verschiedenen kann nur aus der Vielfalt von Gelegenheiten entstehen. Eine fand Remo Largo selbst vor ein paar Jahren auf der gegenüberliegenden Seite des Zürichsees. Eine kleine Schule, in der nicht unterrichtet wird. Wie bitte? Eine Schule, in der nicht unterrichtet wird? Er hatte mir empfohlen, sie unbedingt zu besuchen, um einen Film zu drehen. Er zitierte seine Frau, die ihn fragte, „wo kommst du denn her“, wenn er von dort so entspannt nach Hause kam.
Die Schule heißt Villa Monte. Es ist kein Schulhaus mit Klassenräumen, sondern eine Villa mit lauter schönen verschiedenen Räumen. Draußen Werkstattgeräusche. Stolz zeigt ein Knirps sein Schwert. Ein anderer sein halbfertiges Holzgewehr. Nanu, eine Waffenkammer? Die Kinder werden nicht pazifistisch agitiert, sie werden handwerklich unterstützt. Keine Schule habe ich je so friedvoll erlebt wie diese. Irgendwann lassen die Kinder die Waffen, um die kein pädagogischer Krieg geführt wird, einfach stehen.
Wenn sie nur dürfen
Im Gebäude fällt über dem Telefontisch dieser Spruch auf: „Wenn ich nur darf, was ich soll, aber nie kann, wenn ich will, dann mag ich auch nicht, wenn ich muss. Wenn ich aber darf, wenn ich will, dann mag ich auch, wenn ich soll, und dann kann ich auch, wenn ich muss. Denn die können sollen, müssen wollen dürfen.“ Diesen Satz hat Remo Largo immer wieder zitiert. Ebenso diesen hier: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht.“ In diesem Sinne war er gegen Erziehung und setzte an deren Stelle Beziehung.
Im Hauseingang der Villa Monte stehen Schuhe. Es geht raus und rein. Die Erwachsenen in dieser Schule mit 80 Kindern und Jugendlichen binden Kindern geduldig die Schuhbänder. Kein Insistieren auf Selbstständigkeit. Schon wieder so eine Irritation. Für Remo Largo war das eine typische Situation. Sie helfen den Kindern und dann dauert es manchmal länger.
Aber meistens geht es ganz schnell, dass die Kinder ihre Schuhbänder selbst zubinden wollen. Ja, sie wollen. Lernen ist zumeist ein indirekter Vorgang. Das allzu Direkte beleidigt uns und aktiviert unser psychisches Immunsystem. Aber das Indirekte erfordert Geduld und, ja, Liebe. Liebe zu den Kindern und Liebe zur Welt.
Die Eltern sind übrigens nicht die Reichen vom Zürichsee. Interessant auch: die Kinder kommen später in die Pubertät. Oft zwei oder noch mehr Jahre später als der Durchschnitt. In dieser Schule, die nicht unterrichtet, wird viel gelernt. Und was wird aus den Absolventen? Von den kürzlich nach 30 Jahren befragten Abgängern ist keiner arbeitslos.
Nein sagen zu dürfen
Sie sind auch nicht, wie die Gründer mal dachten, überwiegend Künstler geworden. Eigenwillige Biografien sind häufig. Etwa der Gründer einer erfolgreichen Informatikfirma, der in der Schule matheabstinent blieb. Es läuft eben anders. Bei einem meiner Besuche konnte ich miterleben, wie plötzlich ein Mathefieber ausbrach, ein Lernvirus. Die Möglichkeit, nein zu sagen, ist die Voraussetzung, bejahen zu können. Vor allem aber, so Remo Largo, braucht es das „Gottvertrauen, das die Erwachsenen in die Kinder haben“.
Am vergangenen Mittwoch ist Remo Largo gar nicht unerwartet in seinem schönen Haus zwischen den noch nicht völlig abgetauten Gletschern und dem weiten Zürichsee gestorben. Er hatte in diesem Jahr den dritten Hirnschlag seines Lebens. Er sprach darüber, dass er nie erwartet hatte, so alt zu werden. Sein 77. Geburtstag stand diesen Monat bevor.
Die einer Erbkrankheit geschuldeten Einschläge, den ersten Hirnschlag hatte er mit 31 Jahren, hatten ihn den Gegenpol zur wunderbaren „Gebürtlichkeit“ (Hannah Arendt) erfahren lassen, unsere Sterblichkeit. Von der wusste er, dass auch sie eine Quelle ist. So wie Lessing, der über die Götter der Antike schrieb, dass sie, die Unsterblichen, uns Sterbliche gerade für unsere Sterblichkeit beneideten. Erst diese ermögliche Freundschaft.
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