Nachruf auf Gerhard Zwerenz: Wandelbar und streitbar
Der linke Publizist lieferte die Vorlage für Rainer Werner Fassbinders umstrittenstes Stück. Jetzt starb er im Alter von 90 Jahren.
An der Wiege wurde es dem 1925 in eine Arbeiterfamilie in Sachsen hineingeborenen späteren Schriftsteller und Essayisten Gerhard Zwerenz nicht gesungen, dass er dereinst auf ein Lebenswerk von rund 80 Bänden (zum Teil zusammen mit seiner Ehefrau Ingrid verfasst) zurückblicken würde. Er machte zunächst eine Lehre als Kupferschmied, und dann kam der Krieg, den er bis zur Desertion 1944 mitmachte. In Polen geriet er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. 1948 kehrte er zurück.
Mit der Gründung der DDR trat Zwerenz 1949 in die SED ein, deren Mitglied er bis 1957 blieb. Nach kurzer Tätigkeit als Volkspolizist studierte er von 1952 bis 1956 bei Ernst Bloch in Leipzig Philosophie. Im Zuge der antisemitischen Kampagnen kurz vor Stalins Tod (1953) in der Sowjetunion und in deren östlichen Satellitenstaaten sowie des antistalinistischen Aufstandes in Ungarn und der Repression gegen linke Oppositionelle in der DDR (zu denen u.a. Wolfgang Harich, Walter Janka und Ernst Bloch gehörten), geriet Zwerenz ins Visier der DDR-Justiz- und Polizeibehörden. 1957 floh er in den Westen und wurde dort politischer Publizist und freier Schriftsteller. Sein erster Roman, „Die Liebe der toten Männer“ (1959), handelt vom Aufstand des 17. Juni und erschien bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, wie viele der folgenden Werke. Mit seinen gesammelten Essays „Ärgernisse. Von der Maas bis an die Memel“ machte sich Zwerenz 1961 einen Ruf als politischer Publizist.
Der Roman „Casanova oder der Kleine Herr in Krieg und Frieden“ (1966) wurde sein erster Bestseller und der Autor zum landesweit bekannten Schriftsteller, der sich kritisch und satirisch mit den gesellschaftlichen Zuständen im Nachkriegsdeutschland auseinandersetzte. Mit seinem Helden Michel Casanova schuf er gleichsam den Prototyp des politischen Nonkonformisten. Im Zuge der Studentenbewegung entdeckte der Schriftsteller nicht nur das oppositionelle Milieu als eines seiner Themen, sondern auch die sexuelle Emanzipation (“Erbarmen mit den Männern“, „Die Lust am Sozialismus“, 1968/69).
Zwerenz wurde nun zum Erfolgsschriftsteller mit Themen, die in der Luft lagen. In der seriösen Literarurkritik wohl eher geschadet hat ihm seine Nebentätigkeit als Autor von pornografischen Romanen unter dem Pseudonymen Peer Tarock und Gert Amsterdam.
Antisemitismus-Vorwürfe
Mit stärker autobiografisch geprägten Werken wie „Kopf und Bauch. Die Geschichte eines Arbeiters, der unter die Intellektuellen gefallen ist“ (1971), „Der plebejsche Intellektuelle“ (1972) und „Der Widerspruch. Autobiographischer Bericht (1974) schaffte Zwerenz nicht nur den Schritt zum renommierten S. Fischer Verlag, sondern gewann auch wieder Ansehen bei der Kritik und der linken Leserschaft. Der Roman, „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“(1974) beschreibt ziemlich realistisch das Zusammenspiel von Banken, Bauspekulanten, dubiosen Strohmännern und Lokalpolitik bei der Zerstörung des Frankfurter Westends, das heißt dem Bau von Büro- und Hochhäusern sowie der Luxussanierung und Vernichtung von Wohnraum.
1975 destillierte Rainer Werner Fassbinder aus diesem Roman sein Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, das der Suhrkamp-Verlag nach der bösartigen Polemik des FAZ-Herausgebers Joachim Fest zurückzog. Fest meinte, das Stück sei „antisemitisch“ und eine darin als „reicher Jude“ bezeichnete Figur bediene nur „Klischees“. Gerhard Zwerenz war mitgemeint und verteidigte sich mit dem etwas zu pauschalen Argument, „linker Antisemitismus“ sei per se „unmöglich“, denn Antisemiten seien niemals links.
Zwerenz und Fassbinder gerieten in die Falle, in die alle gelangen, die Stereotype, Ressentiments und Vorurteile zum Material ästhetischer Bearbeitung machen: Sie kommen unter den schwer widerlegbaren Verdacht, selbst solche Stereotype, Ressentiments und Vorurteile zu vertreten. Auch der Protest prominenter Linker gegen die zehn Jahre später geplante Aufführung des Stücks (“Das Stück ist nicht antisemitisch“, Daniel Cohn-Bendit) blieb chancenlos gegenüber dem vor allem von Konservativen bewirtschafteten Skandalgeheul. Die Differenzierung zwischen politischem Antisemitismus und der ästhetischen Darstellung antisemitischer Ressentiments ging unter.
Großes Aufsehen in der Öffentlichkeit und in Gerichtsprozessen erreichte Zwerenz nochmals mit seinem Manifest „Soldaten sind Mörder. Die Deutschen und der Krieg“ (1988). Von 1994 bis 1998 war Zwerenz Abgeordneter der PDS im Bundestag. Gestern ist er im Alter von 90 Jahren in der Nähe von Frankfurt gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen