Nachruf auf Frank Schirrmacher: Schreiben als Waffe
In seinen Texten zeigte er sich gut gepanzert. Jenseits aller Weltwichtigkeiten, die ihn umtrieben, konnte Frank Schirrmacher sentimental werden.
Er konnte bewegende Nachrufe schreiben. Sein Stück über den Tod Marcel Reich-Ranickis etwa, dem er einst als Literaturchef der FAZ nachgefolgt war, bevor er deren Mitherausgeber wurde, war ein Drahtseilakt und große Kunst. Die ganze Zumutung des Todes steckte darin und viel von dem Drama an Streitpunkten und Versöhnungen, das diese beiden Alphatiere des deutschen Feuilletons verband. Das Leben als Drama, darunter machte es Frank Schirrmacher sowieso nicht.
Einen sehr schönen Nachruf hat Frank Schirrmacher aber vor gut einem Jahr auch auf Otfried Preußler verfasst, den Erfinder der „Kleinen Hexe“ und des „Räuber Hotzenplotz“. Auch dieses vermeintliche Nebenstück wird in Erinnerung bleiben, wie so vieles von diesem Journalisten, der einen immer wieder in Erstaunen versetzen konnte, im Positiven wie dann doch auch im Fragwürdigen.
Und weil es bei diesem Kinderbuchautor jetzt nicht um Weltwichtigkeiten ging, wie sie ihn meistens umgetrieben haben, konnte er darin ein bisschen sentimental werden – was sehr berührend wirkte, vor allem aber auch eine Art Seiteneingang in sein Denken gewährt.
Eine Eingangstür, die vielleicht weniger prunkvoll auftrumpft wie die großen Debattenfelder rund um die alternde Gesellschaft, die wildgewordene Ökonomie und die Gefahren des Internet, die Schirrmacher als Feuilletonist wie als Sachbuchautor („Das Methusalem-Komplett“, „Ego“) so wirkmächtig beackert hat. Die Tür, die es aber immerhin auch gibt.
Eine Kulturgeschichte Deutschlands seit 1968
An Otfried Preußler hat Frank Schirrmacher vor allem die Magie der Sprache, ihre Zauberkraft fasziniert. Er beschreibt, wie es Preußler gelingt, durch die Aura von Namen und Begriffen – „Abraxas“, „Wachtmeister Dimpfelmoser“, „Buxtehude“ – das „Abwesende und Versunkene“ der Kindheit wieder heraufzubeschwören. Er ist fasziniert davon, wie sich Preußler damit als Autor selbst erfindet. Und es findet sich in diesem Nachruf einer dieser so überraschenden wie unbeirrbar dastehenden Schirrmacher-Sätze, von denen man oft gar nicht so genau weiß, wo sie herkommen: „Die großen Kinderbuchautoren legen mit ihren Geschichten einen Kreis um das Ich.“ Da ist der Seiteneingang. Diesen Satz hat Frank Schirrmacher auch über sich selbst geschrieben.
Wie man mit Sprache Dinge tut und sich selbst erfindet, das hat ihn seit seinen Anfängen bis zu seinem so überraschenden Tod am Donnerstag dieser Woche im Alter von 54 Jahren interessiert. Nein, nicht nur interessiert. Er hat es betrieben. So ausgiebig, dass man mit dem Kreisen von Geschichten, die er in den vergangenen Jahrzehnten um sein Ich gelegt hat, eine Kulturgeschichte Deutschlands seit, na, 1968 erzählen kann.
In seinen Anfängen in den Achtzigern fand er mit geradezu brutaler Präzision die Thesen und Begriffe, mit denen er sich selbst als Autor erfinden konnte. Während sich um ihn herum die kritischen Intellektuellen mit Poststrukturalismus und Ästhetik beschäftigten und die Rede in der Kultur sich um „Bewahrung“ zu drehen begann, ging er die Platzhirsche der Kulturlandschaft wie Günter Grass und Christa Wolf bald frontal an.
Wirksamkeit im Diskurs
Der Punkt war nicht nur, dass er dabei Elemente eines damals als rechts verschrienen, „gefährlichen Denkens“ etwa von Ernst Jünger und Stefan George reaktivierte. Der Punkt lag vielmehr in der Leidenschaft und Vehemenz, in der er auftrat. Wer auf seine literaturkritischen Prunkstücke mit dem gelassenen Setzen auf das bessere Argument reagierte, hatte wenig verstanden.
Es war damals die Zeit, als gehobene Feuilleton-Autoren sich erst einmal in Ruhe ein gutes Mittagessen im Restaurant bestellten, bevor sie sich ans Verfassen einer Glosse oder einer Kritik setzten. Bei Schirrmacher aber wurden die Argumente, statt abgewogen zu werden, eher auf ihre Wirksamkeit im Diskurs – mit Blick auf den Preußler-Nachruf gesprochen: auf ihre Zauberkraft – ausprobiert und angewendet: Schreiben ist für ihn immer auch ein Waffengang gewesen.
Hauptsächlich ging es dabei um Geschwindigkeit und um das Erhaschen des Momentums. Das Junggenialische an ihm – während zeitgleich der Begriff des Alt-68ers gesellschaftlich populär wurde – war Teil des Faszinosums. Erst wurde mit ihm in der FAZ die Generation der 68er übersprungen. Dann hat er, zusammen mit den damaligen Jungfeuilletonisten Gustav Seibt, Jens Jessen und Patrick Bahners, die alte Garde um seinen bürgerlichen Mentor Joachim Fest einfach überrannt.
Die feuilletonistische Allzuständigkeit
In Herlinde Koelbls berühmter Fotoarbeit „Spuren der Macht“ kann man in Schirrmachers Gesicht sehen, dass das Verhärtungen verursacht und Kraft gekostet haben muss. In seinen Texten dagegen zeigt er sich stets gut gepanzert. Bevor die Zeitungskrise ausbrach, konnte man Schirrmacher genau einmal beim Bewahrenwollen erwischen. Ende der neunziger Jahre, als die FAZ die Hörfunkprogramme abdruckte und Schirrmacher damit programmatisch „Lampions anzünden“ wollte. Da hat er eben auch mal diese Diskursform ausprobiert.
Kurz darauf, am 27. Juni 2000, aber hat er statt Lampions lieber diskursiv Atombomben gezündet. Das FAZ-Feuilleton räumte er in Gänze frei, um die komplette, gerade eben von Craig Venter entschlüsselte Genomsequenz abzudrucken. Eine ungeheure Debatte um einen erweiterten Kulturbegriff setzte ein, den Schirrmacher immer weiter ausbaute – so wie er der alten Bundesrepublik in die Berliner Republik entkommen wollte, wollte er dem bildungsbürgerlichen Kulturbegriff in eine feuilletonistische Allzuständigkeit entkommen.
Damals war Schirrmacher auf dem Höhepunkt seiner genuinen Macht. Die FAZ hatte Geld wie Heu und genug Seiten und Stellen, um Experten sowie Gegenexperten zu allen möglichen Debatten zu Wort kommen zu lassen. Nur die Frage, ob Schirrmacher damals die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts nun feiern oder vor ihren Folgen warnen wollte, blieb seltsam offen. Und seitdem die Werbeeinnahmen für die FAZ nicht mehr sprudelten, hat sich auch etwas Kassandrahaftes in seine Texte eingeschlichen. Immer sind „wir“ – Schirrmacher schrieb zuletzt meist in dieser so wuchtigen wie unverbindlichen Wir-Perspektive – vom Untergang bedroht. Immer müssen „wir“ uns auf etwas besinnen.
„He was a man, take him for all in all“
Nicht mit differenzierten Analysen, sondern mit solchen großen rhetorischen Gesten hat Schirrmacher Themen gesetzt: zuletzt, mit viel Neugier und vielleicht auch einer Art Angstlust betrieben, die Veränderungen des menschlichen Denkens und Handelns durch das Internet. Was ihm einen gehörigen Transfer von kulturellem Kapitel seitens der kritischen Computerszene beschert hat. Und der FAZ-Leserschaft einen Anschluss an die Debatten der Zeit. Neben inhaltlichem Gewinn hat Schirrmacher so über die Jahre einfach auch Neugier aufs Zeitungslesen erzeugt, und schon das ist eine gehörige Leistung: Man wollte schlicht wissen, was er jetzt schon wieder für eine Debatte angezettelt hat.
Manchmal hilft nur Shakespeare weiter. „He was a man, take him for all in all“, heißt im „Hamlet“. Wer Schirrmacher gerecht werden will, muss das alles sehen: seine diskursive Wucht und rhetorische Kraft, seine Gründungslust, die etwa in den inzwischen legendären „Berliner Seiten“ der FAZ und der FAS mündeten, wie seinen dann letztlich doch in all seinen Debatten wiederholenden intellektuellen Gestus, der – tut mir leid – stets mindestens so sehr an Macht wie an Aufklärung orientiert war.
Er hat so viele Talente; rhetorische, intellektuelle. Aber er wollte immer handeln mit seinen Worten: sich behaupten, Meinungsführerschaft durchsetzen, Gegner bekämpfen. Und oft wollte er die Magie der Worte auch erzwingen. An so etwas wie soziale Aushandelsprozesse, intersubjektive Diskurse und gegenseitige Selbstaufklärung des Publikums hat er nicht geglaubt. Auch seine zuletzt Aufsehen erregende Hinwendung zur linken Gesellschaftskritik unter dem Titel „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ klang in meinen Ohren jedenfalls ziemlich autoritär. Aus dem Machtkreis, den er um sein Ich gelegt hat, kam er nicht heraus.
Oder vielleicht doch, manchmal, wer weiß das schon. Wenn er an Abwesendes und Versunkenes dachte.
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