Nachruf André Glucksmann: Das Ärgernis der Linken
Vom glühenden Marxisten zum Kritiker aller totalitären Erzählungen: Der französische Philosoph André Glucksmann ist tot.
Sein Sohn Raphael twitterte am Dienstagmorgen: „Mein erster und bester Freund ist nicht mehr.“ Was für eine traurige, des guten gemeinsamen Lebens glücklich gesinnte Mitteilung: André Glucksmann, berühmter französischer Philosoph, ist gestorben. Er wurde 78 Jahre alt.
Was für ein aufregendes, intellektuell befriedigendes Leben dieser Mann hatte. Über Tote ja nie Schlechtes, aber man darf vermuten, dass es eine Fülle von klassischen Linken gibt, die in ihm den Verräter ihrer Welt sahen und nun recht froh sind, dass von ihm kein Ärger mehr zu gewärtigen ist.
Glucksmann, 1937 in Boulogne-Billancourt geboren, ist das Kind von osteuropäischen Juden, aus europäischen Gegenden, die von Nationalsozialisten wie Stalinisten besonders blutig heimgesucht wurden. Die Mutter und der Vater Glucksmanns lernten sich in Palästina kennen, wanderten nach Deutschland aus, wo sie 1933 vor den Nazis flohen, nach Frankreich. Sein Vater kam dort beim Einmarsch deutscher Truppen ums Leben.
André Glucksmann wurde nicht in ein KZ deportiert, weil er in Frankreich geboren wurde – und Franzose war. Das muss gewusst sein, weil Glucksmann zeitlebens kaum etwas mehr politisch irritierte, als wenn Staaten, wie die Bundesrepublik, kein republikanisches Verständnis – also blutsfernes – vom Staatsbürgerrecht haben. Damals war längst biografisch angelegt, dass einer wie dieser spätere Philosoph ein laizistisches Verhältnis zum Zusammenleben hat – religionsfern, aber nicht glaubensfeindlich.
Ein großer Weltverbesserer
Glucksmann, ein fleißiges, wissbegieriges, auf noble Leistungen abonniertes Kind, studierte Philosophie in Lyon und an der Elitehochschule École normale supérieure de Saint-Cloud, verlegte sich bei Raymond Aron auf das Studium von Krieg, Abschreckung und nuklearer Strategie – und war vor allem ein glühender Weltverbesserer. Maoist, später Teil der illegalen Gauche prolétarienne – ehe ihm die Schriften Alexander Solschenizyns in die Hände fielen, Berichte aus dem realen Sozialismus, aus den Gulags, aus dem, was zum Erbe der totalitären Diktaturen Osteuropas beschrieben wurde: Systeme des Terrors, der Angst, der Unfreiheit, der Einschüchterung. Glucksmanns Diagnose des sowjetisch-unfreiheitlichen Komplexes lautet: Aus einem der größten Freiheitsbegehren wurde durch den Stalinismus das zynischste Machtsystem.
1976 erschien seine Schrift „Köchin und Menschenfresser – über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager“. Ausgerechnet beim Wagenbach-Verlag in Westberlin: Das war Verrat eines Zentrums linker Publizistik. Aber Glucksmann zeigte, wie sehr die französischen Intellektuellen gelernt hatten, sich von den stalinistischen Einschüchterern der Linken zu entfernen. Glucksmann und viele andere wollten sich auf keinen Fall jener Logik unterwerfen, von der auch die RAF & Co. in den deutschen Siebzigern zehrte: Wenn du nicht für mich bist, bist du ein Teil des Problems.
1977 die nächste Unverschämtheit, eine ins Herz der deutschen Linken zielende Schrift mit dem Titel „Die Meisterdenker“. Gemeint waren Hegel, Fichte, Nietzsche und Marx – sie würden eine romantische Überhöhung des Revolutionsgedankens pflegen.
Europa als politisches Kunstwerk
Glucksmann war aufgebrochen, sich von der Erpressung der kommunistischen Internationale zu lösen. „Ideologien sind das Alibi des Hasses“, sagte er 2004 dem Spiegel, und: „Um seine Zerstörungskraft zu entfalten, muss Hass kollektiv werden.“ Europa war für Glucksmann – der vermutlich ein Gros der Popularität speziell seiner Person einem unverschämt guten Aussehen verdankte – eine Errungenschaft, ein politisches Kunstwerk. Zur Entwicklung des Politischen formulierte er: „Eine Zivilisation gründet sich nicht unbedingt auf das gemeinsam angestrebte Beste, sondern auf die Ausgrenzung, die Tabuisierung des Bösen.“ Man könnte heute darin einen Kommentar zu den Protesten gegen die Europavergifter namens Orbán, Le Pen oder auch Pegida lesen.
Glucksmann hatte es gern mit Pathos und Pomp: Das mochten die stilistisch eher grauen Intellektuellen, die Buchhalter des Zeitgeistigen, gar nicht, diese Flamboyanz, diese Schamlosigkeit, das Schöne und Gelingende im Jetzt zu entdecken. Und hatten diese niederflurigen Denker nicht recht? Irrte Glucksmann nicht in seiner Emphase für die tschetschenischen Terroristen in Russland? War es nicht fragwürdig, 2007 für Nicolas Sarkozy Partei zu ergreifen?
Andererseits: Glucksmann hat lange vor dem deutschen Diskurs kühl den Krieg gegen das aggressive Serbien Miloševićsgewünscht; hat den Arabischen Frühling gefeiert, das Bombardement Libyens gefordert. Er hat in Frankreich Minderheitenschutz eingeklagt, für Roma, für Migranten, für Muslime, für alle, die diskriminiert werden. Denn, so Glucksmann, die Demokratie ist ein Mittel, um Freiheit zu organisieren, aber vor allem ist sie keine Instanz, die ermittelt, wer über andere herrscht. Sie ist vielmehr gut für Minderheiten – denn Staaten und Gesellschaften ohne demokratisches Selbstverständnis verfolgen, wenn es passt, zur Not alles Minoritäre.
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