Nachhaltigkeit in der Nordsee-Fischerei: Für Seelachs gibt’s kein Siegel mehr
Nordsee-Seelachs gibt es nicht mehr nachhaltig. Das hat der Nachhaltigkeits-Zertifizierer MSC festgestellt und entzieht Fischereien die Belobigung.

Zu dieser Fischart, die zwar Lachs genannt wird, aber zur Familie der Dorsche gehört, hat der MSC jüngst eine folgenreiche Entscheidung getroffen, die am 30. Juni in Kraft tritt: Fischereien, die Nordsee-Seelachs fangen, verlieren das Nachhaltigkeitssiegel. Grund für den Verlust des Siegels sei laut einer Erklärung des MSC vom Montag eine „veränderte wissenschaftliche Bestandsbewertung durch den Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES), wonach die Bestandssituation des Nordsee-Seelachs nicht mehr im grünen Bereich liegt“.
„Nach dem MSC-Umweltstandard dürfen Fischbestände nur so stark befischt werden, dass sie eine gesunde Größe behalten oder in ihrer Regeneration nicht beeinträchtigt werden“, so Kathrin Runge, MSC-Programm-Managerin für den deutschsprachigen Raum. Neue wissenschaftliche Daten zeigten, dass dies beim Nordsee-Seelachs nicht sichergestellt sei.
Uneinige Gutachter
Die Frage ist nur: Was heißt hier „neu“? „Der genaue Vorgang ist unklar“, sagt Christoph Stransky, stellvertretender Leiter des Instituts für Seefischerei des Bundesforschungsinstituts Thünen, der taz. „Unter welchen Umständen das MSC-Siegel abgegeben wurde, ist uns nicht bekannt.“ Die Zahlen des ICES lägen für dieses Jahr noch nicht vor, „das erfolgt erst am 27. Juni.“ Hilfreich sei eine solche Verfrühung „nicht unbedingt, falls in ein paar Wochen die Empfehlung doch anders ausfällt als aktuell erwartet.“
Andrea Harmsen, Sprecherin von MSC, ist bewusst, dass es „ein bisschen unglücklich“ ist, nicht bis zum 27. Juni gewartet zu haben. Sie räumt ein, dass der ICES-Advice, auf den der MSC mit seiner Siegel-Suspendierung reagiert, schon ein Jahr alt ist.
Grund für die Verzögerung sei eine Uneinigkeit der Gutachter. „Eine Gutachterfirma, die den Fischbestand für die deutsche Seite der Seelachs-Fischerei bewertet hat, hat gegen eine Suspendierung votiert, eine andere, für die anderen Länder, dafür.“ Bei einem Dissens sei die MSC-Regel, „dass das kritischere Votum gilt“.
Fangquoten nicht ausgenutzt
Besonders hart trifft das das Fischereiunternehmen „Kutterfisch-Zentrale“ aus Cuxhaven, das fast den gesamten deutschen Seelachsfang anlandet und, so Runge, „ein Vorbild in Sachen Nachhaltigkeit“ ist.
Kai-Arne Schmidt, Geschäftsführer von Kutterfisch, ist tief frustriert: „Der Fischereidruck auf Seelachs wurde in der Nordsee offenbar minimalst überschritten, kaum messbar“, sagt er der taz. „Aber nicht von uns, wir haben unsere Fangquoten gar nicht voll ausgenutzt. Unser Gutachter hat uns attestiert, dass wir alles richtig machen. Und dann fährt offenbar irgendjemand anderes über Rot, und auch dir entziehen sie den Führerschein.“
Wie es jetzt weitergeht? „Wir fischen so nachhaltig weiter wie bisher“, sagt er. „Nur jetzt eben ohne Siegel.“ Der Verlust von Marktzugängen und Umsatz droht. Kutterfisch hat noch andere MSC-Siegel, etwa für Schellfisch und Seehecht. „Aber wer sagt mir denn“, schüttelt Schmidt den Kopf, „dass ich diese Siegel nicht auch verliere, weil jemand anderes Mist baut?“ Schmidt schließt nicht aus, dass dabei „Schiffe über die Klinge springen“.
Überfischung, Beifang und Lebensraumzerstörung
Christopher Zimmermann, Leiter des Thünen-Instituts für Ostseefischerei, Mitarbeiter des ICES und lange Jahre bei MSC, bestätigt der taz, dass sich die beiden Zertifizierer nicht einig geworden seien, „ob die marginale Überschreitung der Zielsterblichkeit wirklich eine Suspendierung rechtfertigt“.
Aber: „Fischerei und Politik haben hier nichts falsch gemacht“, sagt er. Das Problem liege bei der Wissenschaft. Grund der Überschreitung sei eine „Absenkung der Referenzpunkte in einem Benchmark des ICES im Frühjahr 2024“. Hier hatte dies zur Folge, „dass der Fischereidruck minimal über dem neuen, niedrigeren Referenzpunkt lag“. Ist also überhaupt jemand über Rot gefahren?
„Auch zertifizierte Fischprodukte sind kein Freifahrtschein für Nachhaltigkeit“, sagt Franziska Saalmann, Meeresbiologin und Fachkampagnerin Meere bei Greenpeace Deutschland, zur taz. „Vor allem das MSC-Siegel ist zu Recht umstritten: Fast jedes Produkt von Meerestieren im Supermarkt trägt es inzwischen – dabei werden auch hier Überfischung, Beifang und Lebensraumzerstörung in Kauf genommen. Zudem werden die EU-Fangquoten oft viel zu hoch angesetzt und ziehen weitere Gefährdungen wie die Meereserhitzung und Verschmutzung nicht genug zu Rate.“ Der nachhaltigste Fisch sei „der, der gar nicht erst gefangen und gegessen wird“.
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