Nachbetrachtungen zur Bundesligasaison: Innovation besiegt Tradition
Die Kluft zwischen den Bundesligavereinen ganz oben und den anderen wird immer größer. Aber in der Provinz geht jetzt eine ganze Menge.
Die unglaublichste Leistung der 51. Bundesligasaison hat ohne Zweifel Josep Guardiola vollbracht, und das meine ich nicht statistisch, sondern stilistisch: Mit seinem erstaunlichen Barça-plus-Fußball hat er mich als aufrechten Bayern-Hasser so weit gebracht, dass ich mich über Tore des FC Bayern gefreut habe. Einmal saß ich im Stadion, knappes Spiel, hin und her. Dann coachte Guardiola, und sie schossen in zehn Minuten fünf Tore. Gegen meinen Club. Sie bliesen ihn einfach weg, und sie bliesen meine Loyalitäten einfach weg. Aber auch meinen Hass. Ich saß da und dachte: wow! So geht also Fußball.
Die Folge war eine schmerzliche Entfremdung von langjährigen Kampfgenossen, die mich mit empörten „Hoeneß!“-Rufen verdammten. Aber was blieb mir übrig: Wen dieser Stil nicht ergriffen hat, der muss versteinert sein oder Kunstbanause. Damit meine ich nicht den Ballbesitz, sondern die Variabilität in den Möglichkeiten, die Synchronisation von strategischer und individueller Exzellenz und die Fähigkeit, nach Gegner und Spielsituation Strategie und Personal neu zu organisieren.
Nach dem klaren Halbfinal-Aus gegen Real in der Champions League – einer bitteren Strategieniederlage – wird Guardiolas erste Saison als Bayern-Trainer ja eher mäkelig rezensiert oder gar als Rückschritt gegenüber Vorgänger Heynckes. Was verständlich ist, wenn man Fußball ausschließlich über Titel definiert oder definieren muss. Wenn nicht, dann wird man – wie im Falle des Bundestrainers Joachim Löw – die Größe der historischen Leistung am Erlebnisfaktor seines Spiels messen. Und dann ist es eine überragend gute Fußballsaison gewesen.
Es geht um Deutungshoheit der Projektionsfläche Fußball, klar, aber erstaunlich ist die Maßlosigkeit der Kritik an Guardiola, nachdem wenige Tage zuvor eine eklatante Überlegenheit seines Ballbesitzfußballs diagnostiziert und als wettbewerbsschädlich beklagt worden war. Nun beruht selbstverständlich der weiter wachsende ökonomische und Aufmerksamkeitserfolg der Bundesliga darauf, dass sich Millionen dafür interessieren, die sich eben nicht für Fußball interessieren, sondern für Unterhaltung. Das ist ja auch in Ordnung. Man muss es sich nur klarmachen, warum „zu guter Fußball“ beklagt wird.
Streich als Derwisch
Als der Freiburger Trainer Christian Streich unlängst gefragt wurde, ob es denn das nun gewesen sei mit dem Ballbesitz, bekam er seinen Christian-Streich-Blick und sagte sinngemäß: „Wissen Sie, wir sind auch froh, wenn wir den Ball haben.“ Streich, könnte man arglos denken, sei ein Verlierer der Saison: Freiburg zurückgefallen von Platz 5 auf Platz 14 und er nicht mehr der Darling der Öffentlichkeit, sondern „an der Grenze zum unkontrollierbaren Derwisch“ (FAZ).
Tenor: Soll sich gefälligst zusammenreißen. Das haben Ignoranten damals bei Mozart auch gesagt. Wenn Streich etwas Manisches haben sollte, dann ist das die andere Seite seines Genies. So ist das nun mal, und so war das auch bei seinem Vorgänger Volker Finke. Jedenfalls hat Streich den seit 1993 qua ökonomischer und infrastruktureller Nachteile natürlich zwischen 1. und 2. Liga pendelnden SC zum dritten Mal in der Liga gehalten, der Sport-Klub geht im Sommer in sein sechstes Bundesligajahr hintereinander: neuer Rekord.
Früher nannte man einen wie ihn Konzepttrainer. Das ist passé, weil diese Art der Trainer nicht mehr die Ausnahme ist, sondern die Norm. Die Liga definieren nun die 24-Stunden-am-Tag-Trainer, die mit ihren 24-Stunden-am-Tag-Trainerteams und der Hilfe von Wissenschaft und Daten Fortschritt suchen. Das sind nicht nur Guardiola, Klopp, Streich, Favre und Tuchel, sondern auch Hecking, Weinzierl und Luhukay.
Fußball ist heute so komplex wie Arbeitsplatzsicherung in Zeiten von Globalisierung. Insofern ist es hochgradig albern, mit den Erklärungsmustern der Vergangenheit zu hantieren und bei Abstieg etwa die jeweiligen Profis als faule Fußballsöldner zu stigmatisieren, wie es ansatzweise in Nürnberg und auch in Hamburg passiert. Es ist schlimmer: Wer einfach nur hart oder mehr arbeitet, ist schon abgehängt und hat verloren.
Knurrer von Kerkrade
Die Attitüde des „Wir waren doch immer wichtig“ funktioniert nicht bei Energiekonzernen, Parteien oder Medienunternehmen und auch nicht beim Hamburger SV oder VfB Stuttgart. Mit der Verpflichtung des Knurrers von Kerkrade und dem Hinweis auf alte Titel ist es nicht mehr getan. Tradition hilft beim Schaffen von Zukunft, aber ohne Innovation ist Tradition reaktionär und nichts als sinnloses Formulieren von illusionären Ansprüchen.
Die Innovation in der Bundesliga kommt in einem Spezialfall aus Barcelona, in der Mehrheit aber aus der Provinz, aus Augsburg, Freiburg, aus Paderborn und Fürth, mit den bekannten Abstrichen auch aus Hoffenheim. Und selbstverständlich aus Mainz, von wo das Know-how mit Jürgen Klopp nach Dortmund transferiert wurde und dort mit dem Potenzial des Traditionsstandorts verknüpft und zu einer identitätsstiftenden Idee vom Dortmunder Fußball verschmolzen wurde. Vier Jahre in Serie unter den ersten zwei: Das Ergebnis ist sportlich und soziokulturell fantastisch.
Beides, Idee und Know-how, fehlt seit Jahren bei anderen Regio-Großclubs, dem HSV, VfB Stuttgart, dem Ligarückkehrer 1. FC Köln und auch Werder Bremen, wo die Idee in den letzten Jahren nicht mehr modernisiert werden konnte und man sich nun mit gruseligem Dutt-Fußball geißelt.
In Analogie zum konventionellen politischen Denken würde man sagen, dass die Mittelschicht bröckelt. Das stimmt aber nicht: Sie bildet sich unter den veränderten Bedingungen dynamisch um. Zwar wächst die Kluft zwischen denen ganz oben und den unteren, und ganz nach oben geht es nicht mehr: Aber gerade in der Mitte und in der Provinz geht jetzt eine ganze Menge. Da gibt es eine Sehnsucht nach Identität, nach Heimat als überschaubarem Raum, die sich im Fußball ausdrücken kann. Das Schöne ist: Es braucht im Kern nicht mehr als eine handvoll Leute mit ökonomischem und fachlichem Know-how – und eine visionäre Leitidee.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück