Nachbarschaft und Hass in der Türkei: Erinnerung an meine Balkon-Familie

Die Meis-Siedlung, ein Wohnkomplex in Istanbul mit Blick auf das Marmarameer: Dort war unsere Autorin glücklich – und wurde brutal vertrieben.

Ein Mann steht auf einem Balkon und spiel Akkordeon

Von Balkon zu Balkon: Akkordeonspieler in Budapest Foto: Zoltan Balogh/ap

Weil nun alle in Selbstisolation zu Hause festsitzen, fangen die Menschen an, sich von ihren Fenstern und Balkons aus mit ihren Nachbar*innen zu unterhalten. Wie schön, das Nachbarschaftsleben ist noch nicht tot. Immer, wenn ich solche Videos und Fotos sehe, muss ich an die Meis-Siedlung denken …

Die Meis Sitesi ist ein achtstöckiges Mietshaus mit 105 Wohnungen im Istanbuler Viertel Avcılar mit Blick auf das Marmarameer. Als nach dem großen Erdbeben 1999, von dem Avcılar besonders stark betroffen war, die Mieten sanken, zogen einige trans Frauen in diesen Wohnblock.

Auch ich habe vor neun Jahren zusammen mit 36 trans Frauen in der Meis Sitesi gelebt. Morgens unterhielten wir uns von Balkon zu Balkon. Wenn eine Çay aufsetzte, rief sie uns und wir trafen uns alle bei ihr. Auch zu Abend wurde gemeinsam gegessen. Wir haben unsere eigene alternative Familie gegründet. Linke Männer reden doch immer vom Kommunenleben – genau so haben wir gelebt.

Doch unsere Familie wurde von der AKP vertrieben, die damals noch eng mit der Gülen-Bewegung zusammenarbeitete. Beide hatten aus religiösen und moralischen Gesichtspunkten ein Problem mit trans Frauen. Und den Behörden war die Meis-Siedlung ein Dorn im Auge, weil längst ein Geschäftsmann an der Tür der AKP geklopft hatte, der ein Hotel bauen wollte.

Die Polizei unternahm nichts

Das Schicksal der Meis Sitesi war besiegelt, als der Gülen-Sender Kanaltürk TV mit einem Kamerateam anrückte, heimlich filmte und unser Haus als Prostitutionssumpf darstellte. Nachdem die Sendung ausgestrahlt worden war, versammelte sich jede Nacht ein Mob von Dutzenden Menschen vor unserem Haus.

Wir hatten diese Menschen noch nie gesehen, doch sie behaupteten, sie seien Anwohner*innen. Unsere Wohnungen wurden mit Steinen beworfen, die trans Frauen, die sie allein erwischten, verprügelten sie. Eines Nachts zündeten sie vor dem Haus ein großes Feuer an. Die Botschaft, die sie uns geben wollten, war klar: Wir können das Gebäude jederzeit anzünden, wenn ihr drin seid. Die Polizei unternahm nichts.

Schließlich versiegelten die Behörden mitten im Winter für drei Monate unsere Wohnungen. Die Begründung: angebliche Prostitution in den Wohnungen. Wir landeten auf der Straße; nicht einmal eine Strickjacke durften wir mitnehmen. Als unsere Wohnungen nach drei Monaten wieder geöffnet wurden, waren wir vier weniger. Zwei trans Frauen wurden von Männern zuerst vergewaltigt und dann zu Tode gefoltert. Die dritte trans Frau haben sie erstochen, die vierte fünf Minuten von der Polizeiwache entfernt am Straßenrand erschossen.

Wir konnten zurück in unsere Wohnungen, doch die Meis Sitesi war nie mehr wie zuvor. Nichts erinnerte mehr an das schallende Lachen der trans Frauen, die sich auf ihren Balkons bei Çay unterhielten. Die Moral und die Ehre der Gesellschaft wurden mit Blutvergießen wiederhergestellt. Und ist das nicht alles, was zählt?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.